: „Es wird doch jedes Jahr schlechter“
■ Betroffene Bürger spekulieren über mögliche Ursachen des plötzlichen Blattsterbens im österreichischen Inntal / „Die Menschen machen sich selber kaputt“ / Ob Chemie– oder Klimakatastrophe - die Folgen könnten sich auf den Touristenstrom negativ auswirken
Aus dem Inntal O. Baumeister
Wer sich aus dem Tiroler Kurier über das rätselhafte Blattsterben im österreichischen Inntal informiert hat und Schreckliches erwartet, sieht sich enttäuscht. In Scharnitz, dicht an der deutschen Grenze, muß man über viele Gartenzäune schauen, um ein befallenes Exemplar zu entdecken - einen gut gewachsenen Kirschbaum im Schrebergarten von Frau Lassnig zum Beispiel. Im Wipfel hat er noch einige Blätter, der Rest ist dürr, das Laub braun–schwarz. „I verstehs nit. Vielleicht wars der Reif.“ Eine Nachbarin: „Es ist vielleicht der saure Regen, oder Tschernobyl. Es wird doch jedes Jahr schlechter“, meint sie und schiebt das Gartentürl zu. „Die Menschen machen sich selber kaputt, des is des!“ Sie ist überzeugt, das Blattsterben ist Menschenwerk. Das glaubte auch der Kraftfahrer Joseph Greiderer (37) in Radfeld/Brixlegg, als er am Montagvormittag vergangener Woche zuschauen konnte, wie seine vor zwei Jahren gepflanzten Kirsch– und Zwetschgenbäume die Blätter einrollten. Er ging zum Förster. Der hatte sowas auch noch nie gesehen. „Am Anfang denkst du dir natürlich alles Mögliche. Aber dann, wenns nicht schlimmer wird, beruhigt man sich wieder. Am Morgen, als es passiert ist, war es erst recht kühl, dann kam ein Föhnsturm mit 30 Grad durchs Tal herunter. Vielleicht war das für manchen Baum zu plötzlich und zu heiß. Vielleicht war auch a klaans Giftwoikerl dabei. Vielleicht. Aber nächstes Jahr ist alles wieder o.k.!“ War es das Wetter? War es die Chemie? Bauer Hermann Kern tippt auf Chemie. „Schaun Sie sich die getrockneten Gräserspitzen an“, meint Bauer Kern, „bei soviel Regen ist das nicht normal. Der Chemielehrer Hannes Margreiter ist Umweltschutzbeauftragter im Radfelder Gemeinderat. Als er Montag nachmittags die Verfärbung bemerkte, telefonierte er in der Gemeinde herum: „Eßt das Gemüse aus eurem Garten erst mal nicht, bis wir wissen, was los ist.“ Proben wurden gesammelt und an die Forstinspektion Innsbruck geschickt. Die Lebensmittelkontrolle und andere staatliche Labors fanden nichts. Kein Fluor, keinen überdurch schnittlich hohen Schwermetall– oder Schwefeldioxidgehalt. Er beauftragte auch ein privates Labor in Wien, das zu ähnlichen Ergebnissen kam. „Man weiß bei sowas ja nie, ob da nicht auch gewisse Verhütungsmechanismen der Industrie dahinterstehen.“ Margreiter ist ÖVP–Mitglied. „Auf Parteiebene läuft da bei mir nix. Wir sind ein Fremdenverkehrsort, wir haben einen Ruf zu verlieren. Aber wenn eine Gefähr dung vorliegt, dann sagen wir es auch.“ Die Radfelder haben Erfahrung mit Umweltkonflikten. Eine Kupferhütte in Brixlegg blies gewaltige Mengen SO2 in den Bergwald, bis eine Bürgerinitiative den Einbau von Filtern durchsetzte. Hannes Margreiters Telefon klingelt im Fünf–Minuten– Takt. Besorgte Nachbarn wollen den neuesten Stand der Ursachenermittlung wissen. „Gute Nachrichten: Alles spricht dafür, daß es ein witterungsbedingter Multistress war.“ Der Umweltschutzbeauftragte ist sichtlich erleichtert, das mitteilen zu können. Touristenströme drohten zu versiegen. Das ZDF war da und filmte welkende Pfingstrosen, auch das holländische Fernsehen schickte ein Team. Egal, was es nun war, das die Blätter der Obstbäume verbrennen ließ, das Wort Katastrophe ist zu stark für das, was in den Gärten von Scharnitz und Radfeld zu sehen ist. Die bahnt sich wohl eher außerhalb der Dörfer an. Die Kiefern an den Steilhängen der Zirler Berg–Straße schauen so fadenscheinig aus, als hätte es das ganze Jahr noch nicht geregnet. Die nächsten Schlagzeilen über das Inntal sind vorprogrammiert, wenn die Schutzwälder weiter ausdünnen und die Hänge das Laufen lernen. „Mure verschüttet Bergdorf“ könnten sie heißen.
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