: Auf die Zeugen kommt es nicht an
■ Das Plädoyer des Staatsanwalts im Barbie–Prozeß: Pierre Truche fordert lebenslänglich / Nationalsozialismus als philosophische Doktrin? / Warum Barbie als einziger von ehemals 40 Nazi–Tätern in Lyon übrigblieb
Aus Lyon Lothar Baier
„Ich fordere Sie auf, zu sagen, daß er lebenslänglich eingesperrt bleiben wird.“ Das letzte Wort seines Plädoyers, das Oberstaatsanwalt Pierre Truche nicht ohne Bewegung ausspricht, kommt nicht überraschend. Ohne die Forderung nach der Höchststrafe hätten die Anklage und der ganze Aufwand der Prozeßführung ihre Rechtfertigung verloren. Das „lebenslänglich“ entspricht dem erlösenden Schlußakkord, auf den die lange vor dem Prozeß angeschlagene Tonart hinauslief. Niemand im Gerichtssaal zweifelt daran, daß damit auch der Tenor des Urteils vorweggenommen ist, das am Freitag abend gesprochen werden wird. Was auch immer Barbies Verteidiger Jacques Verges in seinem Plädoyer an juristischen Argumenten und an Kritik der Beweiserhebung vorzubringen hat, wird höchstens ein paar Mißtöne um den Schlußakkord plazieren, ihn selbst aber nicht beeinflussen. Wäre man sich des Prozeßverlaufs nicht sicher gewesen, hätte man Barbie gewiß nicht aus Bolivien hergebracht und man hätte nicht diesen großen Prozeß inszeniert. Dennoch hat sich der Ankläger Truche die Sache nicht leicht gemacht, deren sich die Anklage sicher ist. Mehr als fünf Stunden lang, in seiner hermelinbesetzten roten Robe unter der Treibhausatmosphäre im vollbesetzten Gerichtssaal sichtbar leidend, hat er versucht, den geschichtlichen Hintergrund auszumalen, vor dem Klaus Barbie die ihm vorgeworfenen Taten beging. Ohne den Nationalsozialismus, deutet er darin an, wäre aus dem Katholiken Klaus Barbie wahrscheinlich nie der Täter geworden, der sich jetzt für 373 Mordtaten verantworten muß. Was ist der Nationalsozialismus? Eine „philosophische Doktrin“, lautet die überraschende Antwort, mit anderen Worten, ein „Text“. Der Text ist in Hitlers „Mein Kampf“ festgehalten, aus dem der Oberstaatsanwalt ausführlich zitiert. Der Judenhaß, das Führerprinzip, dem gemäß Barbie später in Lyon verfahren wird, alles ist schon da. Der Text mußte nur noch verbreitet werden, wofür dann, nach 1933, die Schule sorgt. Eine Idee, die in Frankreich einleuchten mag, den deutschen Beobachter aber etwas unbefriedigt läßt: Nazideutschland = Text + effizientes Schulsystem. Bevor Pierre Truche in der zweiten Hälfte des Plädoyers auf Barbies Verantwortung für 842 Deportationen und 373 Mordtaten zu sprechen kommt, ruft er die Geschworenen dazu auf, dem Gehalt der gehörten Zeugenaussagen gegenüber Vorsicht walten zu lassen. Auch wenn Zeugen in gutem Glauben sprechen, können sie sich nach so langer Zeit in Einzelheiten täuschen. Auf die Zeugen, so gibt der Ankläger zu verstehen, kommt es letzten Endes auch nicht an, wenn es um die Schuldfeststellung geht: Die Verantwortung Barbies ergibt sich völlig zweifelsfrei aus seiner Funktion als Chef der Abteilung IV innerhalb des Sicherheitspolizei–SD–Apparats von Lyon. Auf diese Weise kann Pierre Truche die im Prozeßverlauf zutagegetretenen Beweislücken ohne Schwierigkeit zur Nebensache erklären, kann er begründen, warum unterlassene Zeugenladungen zum Komplex des Überfalls auf das jüdische Kinderheim von Izieu keine Rolle spielen. Wenn Barbie auch der Gestapochef war, so hat er doch nicht allein gehandelt - zum ersten Mal wird in dem Prozeß an so prominenter Stelle die Existenz von Mittätern zur Kenntnis genommen. Zum ersten Mal wird erwähnt, daß Barbie nur einer von 40 Beschuldigten aus dem SIPO–SD in Lyon gewesen war, gegen die 1954 vor dem Militärgericht verhandelt wurde. „In diesem Kollektiv, in dieser geschlossenen Gesellschaft des täglichen Horrors, überwachte jeder jeden, was dieses Verhalten ohne jede Spur von Menschlichkeit erklärt.“ Barbie war demnach nicht „allein für alles verantwortlich“, was der Nazi–Apparat in Lyon angerichtet hatte. Wörtlich fügte der Oberstaatsanwalt hinzu: „Es geht um die Verantwortlichkeit einer ganzen Gruppe, von der heute nur noch er, Barbie, übriggeblieben ist.“ Was ist aus den anderen geworden, dem obersten Chef Werner Knab, den für „jüdische Angelegenheiten“ Zuständigen, Wenzel und Bartelmus? „Knab ist tot, Wenzel auch, Bartelmus ist in Deutschland.“ In Deutschland leben, und zwar im Fall von Bartelmus als in allen Ehren pensionierter Polizist, das ist für das Gericht in Lyon offenbar ein Synonym für tot sein. Es ist allerdings ein politischer Tod, der es dem französischen Gericht gewaltig erleichtert, sich ausschließlich an den lebenden und von der BRD den Franzosen gern überlassenen, weil bloß störenden Barbie zu halten. Von all dem dürften die neun Geschworenen nichts wissen, die am Freitag zusammen mit den drei Berufsrichtern auf 341 Fragen mit ja oder nein zu antworten haben. Die deutsch–französische Kooperation, die ihren Preis kostet, steht nicht zur Debatte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen