In Ungarn herrscht Reformmüdigkeit

■ Weder Oppositionelle noch Funktionäre reagieren auf Gorbatschow mit Euphorie / Für die Parteiführung hat Ungarn das Ende eines Weges erreicht, den die UdSSR gerade erst beschreitet / Gorbatschow hält an Parteichef Kadar als Vorzeigereformer fest

Aus Budapest Hubertus Knabe

Auch in Ungarn stellt sich seit dem Machtantritt von Michail Gorbatschow die Frage, welche Auswirkungen die neuen Moskauer Töne haben werden. Oppositionelle und Parteifunktionäre sehen gleichermaßen gebannt nach Osten, um Gefahr und Chance der Verschiebungen im Zentrum des Blocks frühzeitig wahrzunehmen. Langfristig, darüber sind sich alle im Klaren, wird über das weitere Schicksal des ungarischen Reformweges eben doch in der Sowjetunion entschieden. Zunächst war in dem kleinsten Land des Warschauer Paktes alles andere als Begeisterung zu spüren. Man befürchtete vielmehr, der energische neue Mann im Kreml werde nun die kleineren Länder stärker an die Kandare nehmen und den Spielraum für ungarische Sonderwege einengen. Außenpolitische Alleingänge wie jene überraschende Allianz im Jahre 1984 zwischen Erich Honecker und dem ungarischen ZK– Sekretär für Außenpolitik, Matyas Szürös, die sich der Vereisung der Ost–West–Beziehungen nach der Raketenstationierung öffentlich widersetzten, schienen kaum noch vorstellbar. Innenpolitisch, so meinten viele, könnte nun auch das dosierte Laissez–faire in Ungarn zu Ende gehen. Spätestens aber seitdem die sowjetische Nummer Eins im Dezember letzten Jahres mit dem prominentesten seiner Dissidenten, Andrej Sacharow, telefonierte und das Zentralkomitee im Januar wichtige Teile seiner Reformvorstellungen billigte, haben sich Erwartungen und Befürchtungen gegenüber Gorbatschow verschoben. Alle Überlegungen konzentrieren sich nunmehr darauf, welche Rückwirkungen einschneidende sowjetische Reformen auf die Budapester Politik haben könnten. In den ungarischen Reaktionen auf das Moskauer Januar–Plenum überwog zunächst die Erleichterung, daß der steinige Weg der Reformen nicht mehr wie bislang allein und unter partieller Mißbilligung des eigenen Lagers zurückgelegt werden muß. Daß dennoch in der Budapester Parteiführung bislang kein echter Enthusiasmus über die sowjetische Wende zu spüren ist, hängt nicht nur mit der nach wie vor ungesicherten Position des neuen sowjetischen Generalsekretärs zusammen. Zwar widmen sich die ungarischen Zeitungen ausführlicher als in jedem anderen Land des Warschauer Paktes dem Reformgeschehen in der Sowjetunion, aber von einem Überspringen des in Moskau ausgelösten Funkens kann keine Rede sein. Sündenbock Die Parteispitze bestätigt sich vielmehr als Bremser, denn sie fürchtet, daß das sowjetische Erneuerungsprogramm bei jenen unerwünschten Widerhall finden könnte, die die ungarischen Reformen schon lange als unzureichend kritisieren. Die flammenden Appelle aus dem Kreml für mehr Demokratie und Offenheit könnten - wie schon beim Volksaufstand 1956 - von einer zunehmend unzufriedenen Bevölkerung beim Wort genommen werden und Bestrebungen für eine grundle gende Erneuerung auslösen.Mit der Wende im Kreml, so müssen manche in der ungarischen Führung fürchten, haben sie eines ihrer schlagendsten Argumente gegen eine echte Liberalisierung verloren. Die Sowjetunion war schließlich jahrzehntelang die beste, weil unwiderlegbare Rechtfertigung für alles gewesen, was in der Bevölkerung auf Kritik gestoßen war. Ob der Einmarsch der Ungarn in Prag, ob Boykott der Olympischen Spiele, ob Stillstand der Wirtschaftsreformen - immer konnte man dies mit einem Fingerzeig nach oben und dem hinter vorgehaltener Hand gesprochenen Wörtchen „Moskau“ entschuldigen. Nun sticht dieses Argument nicht mehr, und viele spüren, daß es der eigene Parteiapparat ist, der eine Ausweitung der Reformen blockiert. Durch diese Umkehrung der Vorzeichen ist der ohnehin nach dreißigjähriger Herrschaft ausgelaugte Parteichef Janos Kadar in eine mißliche Lage gekommen. Er erscheint nicht mehr als der Garant für die kleinen ungarischen Freiheiten im Vorhof der gestrengen Sowjet union, sondern wird zusehends als Hindernis einer wirtschaftlichen und politischen Erneuerung empfunden. Neben Gorbatschow wirkt er wie ein müder, versteinerter Konservativer, der sein Werk der Konsolidierung nach der blutigen Niederschlagung des Aufstandes von 1956 nicht in Gefahr bringen will. Seine Popularität sinkt, je tiefer das Land in die wirtschaftliche und politische Krise rutscht. „Warum“, fragt bereits ein ungarischer Witz, „tritt Janos Kadar noch immer nicht zurück? Antwort: Weil er das Land so zurückgeben will, wie er es bekommen hat.“ Tatsächlich hat der ungarische Parteichef auf seiner Schweden– Reise Ende April aber allen Rücktrittsspekulationen den Boden entzogen. Eine solche Ankündigung, die nicht zuletzt einem ZK–Beschluß vom März 1986 zur Erneuerung des Führungspersonals zuwiderläuft, konnte kaum zustandekommen ohne Absprache mit dem neuen starken Mann in Moskau. Dieser braucht offensichtlich politische Stabilität im Reform–Modelland Ungarn und ist deshalb mehr als alle anderen an Kadars Bleiben interessiert. So wurde am 25. Juni das Kabinett zwar entscheidend umgebildet und der 57jährige Parteichef Budapests, Koroly Grosz, zum neuen ungarischen Ministerpräsidenten gewählt, an Kadars Stellung hat sich aber bislang nichts geändert. Konservative Kulturpolitik An der Basis der Partei mehren sich jedoch die Stimmen, die den Führungswechsel für lange überfällig halten. Die wirtschaftliche Lage des Landes, die wachsenden sozialen Spannungen und die tiefe moralische Depression im Lande sind Ausdruck der Krise, in der Ungarn steckt. Die Kritiker befürchten, daß die notwendigen Kurskorrekturen erst dann in Angriff genommen werden, wenn es dazu zu spät ist. Aufgeschoben werden aber nicht nur wirtschaftliche und politische Fragen. Auf dem Kongreß der Schriftsteller Ende vergangenen Jahres versuchte die Parteiführung die Literaten auf größere politische Disziplin zu verpflichten. Weitere fünf Jahre wie die vergangenen, drohte ZK–Sekretär Janos Berecz in rüdem Ton, werden wir nicht zulassen. Doch damals ging die Drohung nach hinten los. Denn die Schriftsteller wählten die meisten Parteimitglieder aus ihrem Führungsgremium ab. Dreißig traten aus dem Verband aus, der seitdem zu einer Art politischer Quarantäne verurteilt ist. Statt die Beziehungen zu den Schriftstellern auf wie auch immer geartete Weise in Ordnung zu bringen, griff die Parteiführung auf den politischen Erfahrungsschatz von Helmut Kohl zurück und versucht seitdem, das Thema einfach auszusitzen. Bei dem anderen wichtigen Kulturverband, dem der Filmschaffenden, ist es nicht einmal zu einer Art Aufbruchstimmung gekommen. Nachdem die alte Verbandsspitze vom Moskauer Kongreß der Filmemacher voller Tatendrang zurückkam, folgte bald die Ernüchterung. Statt es den sowjetischen Kollegen nachzutun und - wie angekündigt - die bislang verbotenen Filme aus der Schublade zu holen, wurde die Devise ausgegeben: keine Politik. So verhandelte man nur über das Dauerproblem Geldmangel und verzichtete unter dem Druck der Parteiführung auf jegliche weitergehenden politischen Ambitionen. Insgesamt wird deutlich: Zwar läßt sich die ungarische Parteiführung wie beim Besuch des sowjetischen Politbüromitgliedes Ligatschow im Mai gerne von Moskau für ihre Reformen loben, doch zugleich macht sie deutlich: Ungarn sei am Ende eines Weges, den die Sowjetunion gerade erst beschreitet. Der Prozeß der Demokratisierung habe seine Grenzen erreicht, weitergehende Schritte stünden nicht auf der Tagesordnung. Die ungarische Regungslosigkeit in Sachen „Perestroika“ trifft selbst auf den kleinen Kreis der intellektuellen Opposition zu. Neben den Skeptikern, die es für eine Art politischen Kopfstand halten, ausgerechnet aus dem Land der jahrhundertelangen Diktatur die Demokratisierung zu erwarten, ist auch der „realpolitische“ Flügel um die Untergrundzeitschrift Beszelö eher zurückhaltend. „Gorbatschows Rhetorik“, sagt etwa der Beszelö–Herausgeber Janos Kis, „können wir in der praktischen Politik ausnutzen. Ob wir sie glauben, ist eine ganz andere Sache.“ Kis ist der Ansicht, daß die neue sowjetische Politik den Raum öffnet für radikalere Forderungen, doch in der Praxis eher die jetzigen ungarischen Verhältnisse konservieren will. Parteichef Kadar würde das Land in eine wirtschaftliche Katastrophe lenken, in welcher der Konsens mit der Bevölkerung und die Autorität der Regierung zusehens verfielen. „Die Frage ist, wie schnell Kadars Autorität schwindet. Ich glaube, in spätestens einem Jahr muß er aus innenpolitischen Gründen gehen.“