: ÖTV: Ausstieg am St. Nimmerleinstag
■ Expertenkommission der ÖTV bezieht Position gegen den Ausstiegsbeschluß des DGB / Öko– Institut monatelang ausgegrenzt / Rückendeckung für die Atomfreunde in den Gewerkschaften
Von Martin Kempe
Berlin (taz) - In letzter Stunde konnte die „Ausstiegskommission“ der Gewerkschaft ÖTV wenigstens den Pluralismus noch retten. Nach monatelangem Tauziehen durfte Stefan Kohler vom Freiburger Öko–Institut am 29./30. Juni zur letzten Sitzung der Kommission anreisen, um in der Stuttgarter ÖTV–Zentrale seine Thesen vom machbaren schnellen Ausstieg aus der Atomenergie vorzutragen. Ob er allerdings mit seinen Argumenten die Arbeitsergebnisse des Gremiums noch beeinflussen konnte, bezweifelt er. Denn eigentlich steht spätestens seit April 87 fest: Die ÖTV wird sich, wenn sie der Linie der von ihr berufenen „Ausstiegskommission“ folgt, in die Reihe jener DGB–Gewerkschaften einreihen, die kurz– und mittelfristig um jeden Preis an der Atomkraft festhalten und einen möglichen Ausstieg bestenfalls im nächsten Jahrtausend zulassen wollen. Schon im letzten Jahr soll der für den Energiebereich zuständige stellvertretende ÖTV–Vorsitzende Karl–Heinz Hoffmann intern verbreitet haben, die ÖTV und die anderen Energiegewerkschaften hätten sich auf den Ausstiegsbeschluß des DGB–Kongresses nur deshalb eingelassen, um in der emotionsgeladenen Atmosphäre kurz nach Tschernobyl die Forderung nach dem Sofortausstieg abzublocken. Tatsächlich gewollt haben Hoffmann und seine Gesinnungsgenossen den Ausstieg nicht. Sie wollen ihn bis heute nicht. Dies zeigte sich erneut im Oktober, nachdem der ÖTV–Hauptvorstand die Einrichtung einer Kommission beschloß, die prüfen sollte, „wie der Verzicht auf Kernenergie für die in den Kernkraftwerken beschäftigten Arbeitnehmer sozialverträglich gestaltet werden kann“. Die relativ eindeutig formulierte Aufgabenstellung der Kommission spiegelte sich in ihrer personellen Zusammensetzung nicht wider. Fast die Hälfte der Kommissionsmitglieder sind direkt oder indirekt mit der Energie– und Atomindustrie verbunden, als Betriebsräte von Atomkraftwerken, als Betriebsräte bzw. Aufsichtsräte etwa des Energiekonzerns RWE oder direkt als Interessenvertreter der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke (VDEW). So fehlt weder Dr. Hermann Krämer, Vorstandsvorsitzender der Preußen Elektra, Aufsichtsratsvorsitzender der DWK (Deutsche Gesellschaft zur Wiederaufbereitung von Kernbrennstoffen, verantwortlich für Wackersdorf) noch Christian Rettweiler, Betriebsrat der Atomfabrik in Biblis. Er richtete zusammen mit 21 anderen Atom–Betriebsräten im August letzten Jahres einen Appell an die SPD, auf ihrem Nürnberger Parteitag keinen Ausstiegsbeschluß zu fassen. Eindeutige Gegner der Atomenergie waren in der Kommission dagegen kaum zu finden. Nicht zugelassen wurde Prof. Peter Hennicke vom Freiburger Öko–Institut, der ursprünglich zur Mitarbeit geladen war. Bei diesem Versuch, atompolitischen Pluralismus zu wahren, stolperte die ÖTV über sich selbst: Unmittelbar vor Beginn der ersten Kommissionssitzung im November letzten Jahres war Hennicke wieder ausgeladen worden. Grund: Der Freiburger Professor sei 1975 wegen Teilnahme an einer Demonstration des inzwischen längst aufgelösten Kommunistischen Bundes Westdeutschland aus der ÖTV ausgeschlossen worden. Er könne deshalb aus prinzipiellen Gründen nicht in einer ÖTV–Kommission mitarbeiten. Zwar ist Hennicke schon längst wieder Gewerkschaftsmitglied (bei der GEW), und ein Wiederaufnahmeantrag bei der ÖTV lag vor. Aber als darüber im Februar dieses Jahres positiv entschieden wurde, war dennoch der Weg für seine Mitarbeit in der Kommission nicht frei. Weil Hennicke zwar die ÖTV–Satzung ausdrücklich anerkennt, aber auf seiner Ablehnung des gewerkschaftlichen Unvereinbarkeitsbeschlusses besteht, stellte die ÖTV–Vorsitzende Wulf–Mathies fest, man habe Bedenken dagegen, „den Kollegen Hennicke zum Mitarbeiter der vom Hauptvorstand eingesetzten Kommission zu machen“. Schließlich einigte man sich nach einigem Hin und Her auf den Auftritt von Stefan Kohler während der letzten Kommissionssitzung Ende Juni - ein kosmetisches Zugeständnis, das ohne wesentliche Folgen auf den Kommissionsbericht geblieben sein dürfte. In dem bereits im April vorgelegten Zwischenbericht heißt es: Eine Ausstiegsstrategie ist nur „mittel– bis langfristig“ anzulegen. Ein sofortiger bzw. vorzeitiger Ausstieg kann nicht befürwortet werden, wobei sich das Wörtchen „vorzeitig“ auf die voraussichtliche Lebensdauer der AKWs bezieht. Im Gegenteil, die zugrundegelegte Steigerungsrate im Stromverbrauch von ein bis zwei Prozent jährlich macht einen Zubau neuer Kraftwerkskapazitäten nötig. Eine Ausstiegsstrategie, so heißt es ausdrücklich, könne nur „mittel– bis langfristig“ angelegt werden. Wie dies konkret aussehen soll, steht in dem Anfang Juli fertiggestellten Abschlußbericht der Kommission, der nicht öffentlich ist und im September dem ÖTV– Hauptvorstand vorgelegt werden soll. Alles deutet darauf hin, daß die Kommission in ihrem Bericht Bedingungen für den Ausstieg formuliert hat, die diesen entweder ganz blockieren oder auf den St. Nimmerleinstag hinausschieben. So trat schon in den ersten Sitzungen eine Mehrheit der Kommissionsmitglieder dafür ein, alle derzeit in Bau befindlichen Atommeiler in Betrieb zu nehmen und den Ausstieg nur dann zu vollziehen, wenn ein „breiter öffentlicher Konsens“ also auch mit den Betreiben selbst erreicht sei. Hinsichtlich des Zeithorizonts hat man sich in Schweden informiert: Dort soll der Ausstieg bis zum Jahre 2010 geschafft sein. Für die BRD dürfte den ÖTV–Experten eher ein noch längerer Zeitraum vorschweben. In 25 bis 30 Jahren werden die Atomanlagen betriebswirtschaftlich abgeschrieben sein. Bis dahin werden auch die Atomlobbyisten in der Ausstiegs–Kommission der ÖTV alle Bedenken gegen eine Zukunft ohne Atomkraft verloren haben. Vorerst jedoch können sie noch frohlocken. Offensichtlich durch die Unternehmervertreter in der Kommission informiert jubelte das Unternehmerzirkular Fuchsbriefe in seiner Ausgabe vom 7. Mai: „Die Energie–Kommission der ÖTV bezieht Position gegen den DGB–Ausstiegsbeschluß aus der Atomwirtschaft“. Auch der Ausstiegsbeschluß der SPD bis zum Jahre 2000 sei nach Meinung der Kommission illusorisch. Unverhohlen freut sich der Unternehmer–Rundbrief über die neuen Verbündeten innerhalb der Gewerkschaften: „Ähnlich wie die ÖTV“, heißt es abschließend, „argumentiert auch die Gewerkschaft Chemie–Papier–Keramik.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen