Wie eine Bombe im Zentrum

■ Durch den Tankwagen–Unfall in Herborn kamen mindestens drei Menschen ums Leben 22 Vermißte, 26 Verletzte / Schwierige Bergungsarbeiten in den zwölf zerstörten Häusern

Aus Herborn Reinhard Mohr

Der katastrophale Unfall eines Tanklastzuges im hessischen Herborn hat weniger Opfer gefordert, als zunächst angenommen. Bis zum Mittwoch abend fanden die Rettungsmannschaften drei Tote. 26 Menschen wurden verletzt, vier davon schwer. Auch am Mittwoch abend galten angesichts der besonders schwierigen Bergungsarbeiten noch 22 Bewohner als vermißt. Die Behörden vermuteten allerdings, daß sich viele von ihnen in Sicherheit bringen konnten. Bei den Toten handelt es sich um eine 18jährige Frau und zwei weitere Frauen, die nicht zu identifizieren waren. Die 40 Herborner, die durch die Katastrophe obdachlos wurden, sind zunächst in einem Schwesternwohnheim untergebracht worden. Der Fahrer des Lastzuges, der die Katastrophe verursachte, liegt mit leichten Verletzungen in einem Krankenhaus. Der Sachschaden des Unglücks, das gestern noch Tausende von Schaulustigen anlockte, geht in die Millionen. Um 20.45 Uhr fuhr ein Tanklastzug mit stark überhöhter Geschwindigkeit von der Autobahn kommend die abschüssige Westerwaldstraße hinunter in den Ortskern von Herborn. Ob aus persönlichem Versagen des Fahrers oder aufgrund eines Defekts am Bremssystem - der mit 36.000 Litern Sprit beladene Tanklaster schaffte die leichte Rechtskurve der Bundesstraße nicht mehr, wollte nach links ziehen, geriet ins Schleudern, kippte um und raste in die Eisdiele. In dem Lokal an der Kreuzung Westerwaldstraße/ Konrad–Adenauer–Straße saßen zu diesem Zeitpunkt viele Jugendliche, die Pizzeria einen Stock höher war geschlossen. Benzin und Diesel liefen sofort aus, doch dauerte es noch etwa zwei Minuten, bevor das Ganze explodierte. Viele der Gäste, so Landrat Gerhard Bökel vor der Presse, haben wohl diesen kurzen Zeitraum nutzen können, um aus der Eisdiele zu fliehen. Dann ereignete sich die riesige Detonation, die das Gebäude in die Luft sprengte. Kurz danach explodierten ein knappes Dutzend weiterer Häuser in der Westerwaldstraße durch die Benzindämpfe, die sich über die Kanalisation blitzschnell verbreitetet hatten. Fortsetzung Seite 2, Extraseite zu Herborn Seite 5 Wie an einer Zündschnur aufgereiht gingen sie in Flammen auf. Holzbalken, Möbel, Fensterscheiben und Kanaldeckel flogen durch die Luft, Menschen sprangen aus ihren Häusern. Autos, die über Kanaldeckeln geparkt waren, explodierten. Noch in einem sieben Kilometer entfernten Dorf bestanden die Abwasser zu 80 Prozent aus Benzin, Diesel und Super. Sofort wurde Katastrophenalarm ausgelöst. Die Bürger wurden per Lautsprecherdurchsagen und via TV zum Verlassen ihrer Häuser aufgerufen. Wegen akuter Explo sionsgefahr wurde ein Fahrverbot für den Stadtkern verhängt. 750 Feuerwehrleute und Angehörige anderer Rettungseinrichtungen kämpften gegen die Flammen, die erst am frühen Morgen unter Kontrolle gebracht waren. Unterdessen wurde eine Katastrophenleitstelle in Wetzlar eingerichtet, die mit mobilen Leitstellen vor Ort in Verbindung stand. Der Chef der Frankfurter Berufsfeuerwehr Ernst Achilles hatte unterdessen die Leitung der Brandbekämpfung übernommen. Mit Großgeräten rückten die von überall her strömenden Hilfsmannschaften dem Inferno zu Leibe. Selbst das Flüßchen Dill stand in Flammen. Die Zusammenarbeit der Rettungsmannschaften, so lobte Landrat Bökel, sei „hervorragend“ gewesen. Man habe sich „nicht an Kompetenz und Vorschriften gehalten“. Nur die Schaulustigen, unter ihnen auch viele Journalisten, hätten zuweilen die Arbeit behindert. Die Bilanz am Mittwoch nachmittag: Zwei geborgene Tote, 22 Vermißte und 26 Verletzte, unter ihnen einige Schwerverletzte. Vierzig Menschen sind unmittelbar obdachlos geworden. Zunächst will man ein Schwesternwohnheim für sie bereitstellen. Der Fahrer des Tanklastzuges, gegen den inzwischen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, liegt leicht verletzt im Krankenhaus. Der Sachschaden, den er verursacht hat, geht in die Millionen. Das „Inferno von Herborn“ lockte am Mittwoch nachmittag, nicht zuletzt aufgrund der Live– Berichterstattung des Hessischen Rundfunks, Tausende von „Katastrophentouristen“ an. Währenddessen gingen die Bergungsarbeiten fieberhaft weiter. Doch glaubt man nicht, noch einen Überlebenden unter den Trümmern der Eisdiele zu finden.