: Die Sowjetunion überreicht Weizsäcker eine Liste von Kriegsverbrechern
Leningrad (dpa/taz) - Unspektakulär aber deutlich wird die deutsche Vergangenheit bei Weizsäckers Staatsbesuch zum Thema. In Leningrad besuchte der Bundespräsident am Donnerstag das Museum der dreijährigen Belagerung (von 1941 bis 1943) der Stadt. 500.000 Leningrader starben durch Hunger und Kälte während der Belagerung. Durch Filme und durch Vitrinen, in denen die Hungerration - ein kleiner Brotkanten - ausgestellt ist, wird an das Grauen dieser Jahre erinnert. Dreimal, in fast gleichlautenden Worten, betonte von Weizsäcker, daß er „erst 1943 hierher“ kam - „da war das Schlimmste für die Leningrader schon vorbei“. Er erklärte auch, daß „wir“, d. h. die Wehrmacht, „auch die ungeheuerlichsten Verluste erlitten haben“. Ganz überraschend erhielt das Thema der NS–Vergangenheit am Abschluß von Weizsäckers Moskau–Aufenthalt einen offiziellen Charakter: Zeitgleich mit Weizsäckers Fahrt nach Leningrad veröffentlichte die Prawda einen Bericht, wonach Gromyko dem Bundespräsidenten eine Liste mit Kriegsverbrechern übergeben habe, deren Auslieferung die Sowjetunion verlange. Weizsäcker sei vorgehalten worden, daß die Bundesrepublik „weiterhin Kriegsverbrechern helfe, sich der gerichtlichen Verantwortung zu entziehen“. In dem englischsprachigen TASS–Bericht über die Begegnung beider Staatsoberhäupter waren diese Vorwürfe nicht erwähnt. Zur vorläufigen Bilanz des Besuches gehören der Besuch Weizsäckers und Genschers bei Sacharow; die Befriedigung des Bundespräsidenten über steigende Auswandererzahlen von deutschen Sowjetbürgern; die Zurückhaltung beider Seiten zum „Fall Rust“ und schließlich die Mahnung Gorbatschows, daß die Rede von der „offenen deutschen Frage“ Zweifel an der deutschen Treue zu den Ostverträgen zulasse. Genscher betonte, daß es bei der BRD und der SU einen Willen „zur kardinalen Verbesserung“ der Beziehungen gebe: „Beide Regierungen blicken nach vorn“ (Genscher). Für den Bundespräsidenten ist der Besuch jetzt schon „ein neues Kapitel“ in der Beziehung beider Länder. KH
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