„Schließlich ist Lee Han–Yol ein Held“

■ Die Trauermärsche für den südkoreanischen Studenten Lee Han–Yol entwickelten sich zur bislang größten Manifestation gegen die Diktatur in Südkorea / In Lees Heimatstadt Kwangju besuchten Hunderttausende das Grab des Märtyrers

Aus Seoul Nina Boschmann

Die Diktatur hat einen Märtyrer geschaffen, den sie sobald nicht wieder loswerden wird. Löste die Aufdeckung der tödlichen Foltern an dem Studenten Park Chong– Chol vor fünf Monaten die größte Protestwelle seit dem Amtsantritt Chun Doo Hwans aus, so steht der Tod von Lee Han–Yol dafür, daß auch nach der angekündigten Liberalisierung noch nicht alle Schlachten gewonnen sind. Tausendfach wurde in den vergangenen Tagen auf Flugblättern und Wandgemälden ein Foto reproduziert, das den schon tödlich von einer Tränengasgranate getroffenen Yonsei–Studenten im Arm eines Freundes zeigt; eine kleine schwarze Binde zum Anstecken wurde in Seoul zum Erkennungszeichen für alle Sympathisanten der Demokratiebewegung. Für eine ganze Woche sagte die Opposition alle Veranstaltungen ab. Lee Han–Yol ist ein Symbol für die Unschuld der Jugend, die Willkür der Polizei. Ein Sohn der Cholla– Provinz obendrein, aus Kwangju, der Heimatstadt von Chun Doo Hwans Erzrivalen Kim Dae Jung, wo 1980 ein Volksaufstand blutig niedergeschlagen wurde. Wie erweist man einem solchen Symbol die letzte Ehre? „In aller Stille, keine Politik“, sagt Lees Familie. Sie haben genug gelitten, wollen nicht, daß der Sarg ihres Sohnes von Tränengas eingenebelt wird. „Es soll nicht wieder vorkommen“, sagt der Polizeipräsident, „aber ein Trauerzug durch die Innenstadt kommt nicht in Frage.“ Symbolik auf dem Campus Symbole statt Slogans, lautet die Linie für die Trauerfeier der Yonsei–Universität. Jeder trauert auf seine Weise. Als morgens um sieben die Zeremonie mit einem stillen Gebet beginnt, ist neben rund 20.000 Studenten fast die gesamte intellektuelle Prominenz der Stadt vertreten: Professoren, als kritisch bekannte christliche Geistliche, Politiker der oppositionellen Demokratischen Wiedervereinigungspartei, gehobener Mittelstand in Schlips und Kragen, studentische Ordner in traditionellen weißen Anzügen bewachen den Sarg. Davor Lees Eltern und Geschwister, begleitet von Kim Dae Jung, der jedoch nicht öffentlich spricht. Die Andacht entspricht den Vorstellungen der Eltern. Hochschullehrer sprechen wohlwollend über den Toten, der bekannte Dichter Kott Eun trägt ein Gedicht über Lee vor. Und auch Pfarrer Park Kyong Kyo, der jeden Sonntag vor dem Polizeipräsidium predigt, seit Schlägertrupps der Regierung in seine Kirche eindrangen, beschränkt sich an diesem Morgen aufs Evangelium: „Laßt uns die Erinnerung an Lees Wahrhaftigkeit bewahren. Gott segne alle, die hier versammelt sind.“ Dies gilt freilich nicht für ein paar Polizisten, die vorsichtige Annäherungsversuche Richtung Uni–Eingang unternehmen. Sofort werden sie von den inzwischen an den umliegenden Straßen wartenden Menschenmassen umringt und in die Flucht geschlagen. Peoples Power in der Mittagspause Die Namen der Märtyrer des Volkes werden verlesen, und jetzt gerät auch Lee Han–Yols Mutter außer sich: „Mörder verschwindet“, schluchzt sie ins Mikrofon, und als sich der Trauerzug samt Sarg gegen zehn Uhr Richtung Innenstadt in Bewegung setzt, weinen Tausende mit ihr. Je mehr sich der Zug der Innenstadt nähert, desto kämpferischer wird die Stimmung. Längst haben die Studenten wieder die Führung übernommen und skandieren lauthals Parolen für den sofortigen Rücktritt der Regierung. Tausende stehen am Straßenrand, Geschäftsleute haben vorsichtshalber die Rolläden heruntergelassen. Jede Parole, jedes Protestlied wird mit Klatschen begrüßt. Auf dem großen Platz zwischen Rathaus und Plaza–Hotel, dem Endpunkt der Demonstration, herrscht Volksfeststimmung. Drangvolle Enge herrscht in der aussichtsmäßig günstig gelegenen Cafeteria des Plaza–Hotels. Hunderte winken aus den Fenstern und Bürohäusern und von den Dächern der Banken. Und wer partout nicht von seinem Arbeitsplatz wegkann, wie die Bankangestellte am Wechselschalter, der flüstert der Reporterin doch wenigstens ins Ohr: „Kennst du Lee Han–Yol?“ Schier unerträglich wird das Gedränge, als die ersten Busse mit schwarzen Banderolen auf den Platz einfahren. Die Studenten haben dazu aufgerufen, den Toten nach Kwangju zu begleiten und mindestens 2.000 Bürger sind dem auch nachgekommen. Laute Protestlieder schallen aus den Bussen, Fotografen und minderbemittelte Journalisten versuchen, auf die fahrenden Busse aufzuspringen und schließlich komme auch ich noch bei einer Studentendelegation aus der nahen Hafenstadt Incheon unter. Und los geht die Fahrt, weiter durch die Innenstadt bis zur Autobahn nach Kwangju. Tausende und Zehntausende säumen noch über Kilometer hinweg die Straßen, längst ist es unmöglich, ir gendwelche Schätzungen über Teilnehmerzahlen zu machen. Immer wieder rufen die Studenten „Hoch das Volk, nieder die Diktatur“ und immer wieder kommt von den Bürgersteigen das Victory– Zeichen zurück. Als wir gegen drei Uhr nachmittags Rast machen, sind die druckfrischen Mittagausgaben der koreanischen Zeitungen schon zu haben. Bilder der Demonstration auf dem Titel, darunter: eine Million Teilnehmer beim Trauermarsch für Lee Han–Yol. „Juhu“, ruft einer aus dem Nebenbus im Streetfighterlook. „Wir sind frei von der Diktatur.“ „Koreans are great“ Sechs Uhr abends in Kwangju, der Handelsmetropole des Südens. Ob bei der zweiten Trauerzeremonie in Lee Han–Yols ehemaliger Oberschule, vor dem Rathaus oder auf den Ausfallstraßen Richtung Friedhof, das Volk ist in Bewegung: Zu Fuß, mit dem Motorrad, per Taxi oder in einem der völlig überfüllten öffentlichen Busse versuchen Hunderttausende zu der zehn Kilometer vor der Stadt gelegenen Grabstätte zu kommen. Eine alte Frau eilt gebückt an uns vorbei, schüttelt mir spontan die Hand. Schüler sprechen mich an: „Ich war in der gleichen Schule wie Lee Han–Yol.“ Man faßt mich an der Hand, schiebt mich in die Busse und hilft mir wieder heraus, wenn die Fahrzeuge hoffnungslos im Gewühl steckenbleiben. „Weißt du, was in Kwangju geschah?“ werde ich gefragt. Doch wenn ich nicke, wissen die meisten nicht weiter: „Wir pauken englische Vokabeln, aber wir lernen nicht, unsere Gedanken auszudrücken“, sagt mir ein Oberschüler, der mich eine Weile begleitet und vergeblich versucht, seine Gefühle zu beschreiben. Schon Kilometer vor dem Friedhof ist kein Durchkommen mehr. Wie Glühwürmchen in einer endlosen Kette leuchten die Standlichter der Fahrzeuge und Busse auf dem Feldweg in der Dunkelheit. Viele Familien mit Kindern kommen uns entgegen, doch mindestens genausoviele, vor allem Schüler und Studenten, eilen noch hinauf, suchen im Gänsemarsch Abkürzungen durch Reisfelder und über Hänge. Als wir schließlich ankommen, ist die Beerdigung längst zuende, aber der Friedhof ist von Trauergästen überfüllt. Tausende sitzen allein oder in kleinen Gruppen zwischen den Gräbern, reden oder singen leise, ruhen sich mit dem Rücken an die Gräber gelehnt aus. Kurz vor Mitternacht löst sich das Knäuel der Fahrzeuge auf, ein Ingenieur mit Freund und Familie nimmt mich mit nach Kwangju zurück. Warum er hergekommen ist, will ich wissen. „Nun, schließlich ist Lee Han–Yol ein Held.“ Traut er der Regierung? „Vielleicht ein bißchen.“ Leise dudelt ein Englischkurs im Autoradio, da sagt er voll unverhohlenem Stolz: „Koreans are great“. Und plötzlich stimmen die beiden schicken Ehefrauen im Fonds des Nobelwagens aus voller Kehle Protestlieder an. Koreans are great.