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Neue Frühlingsgefühle in Prag

■ Die tschechoslowakische Bevölkerung stand nach dem Zweiten Weltkrieg der Sowjetunion sympathisierend gegenüber und versuchte, Sozialismus und Demokratie zu vereinen / Trotz kommunistischer Alleinherrschaft seit 1948 und Einmarsch der Roten Armee 1968 konnte diese Tradition wieder lebendig werden

Von Christian Semler

Mit zunehmendem Alter, bemerkt der tschechische Dichter Jan Trefulka, gewinnt man mehr und mehr Gefallen an Geschichten mit glücklichem Ausgang. Der plötzlich für möglich, ja wahrscheinlich gehaltene Besuch Gorbatschows bei Dubcek im April dieses Jahres stammt aus solch einer Szenerie der Tagträume. Denjenigen, die im 68er Jahr (wie man auf böhmisch sagt) in der Tschechoslowakei soviel Enthusiasmus und gute Absichten zeigten, soll doch noch historische Gerechtigkeit widerfahren. Fast 20 Jahre nach dem Überfall auf die CSSR stehen immer noch die Truppen der Sowjetunion im Land. Ihre Stationierung wird nach wie vor mit der Notwendigkeit begründet, die sozialistischen Staaten „vor den Bestrebungen der westdeutschen militaristischen Kreise“ zu schützen. Wie paßt diese altersgraue Bedrohungslüge ins Konzept des „Neuen Denkens“? Noch immer ist eine Equipe an der Macht, deren einzige Legitimation darin besteht, von der Sowjetunion zum Zwingherrn der „Normalisierung“ bestellt worden zu sein. Wie paßt das Ergebnis ihrer Herrschaft - Stagnation und Krise - zur Aufbruchstimmung der Perestrojka? Die Geschichte der sowjetisch–tschechoslowakischen Beziehungen hat nichts von dem schier ausweglosen Dilemma, das etwa das Verhältnis Polens zu seinem östlichen Nachbarn kennzeichnet. Während des Zweiten Weltkrieges hatte Benes, der Präsident im Exil, zunächst eine mitteleuropäische Föderation mit der CSSR und Polen als Kern favorisiert, der Einspruch Stalins brachte ihn jedoch dazu, diese Pläne zu begraben und mit der Sowjetunion 1943 einen exklusiven Freundschaftsvertrag abzuschließen. Für Benes wie für die meisten demokratischen und sozialistischen Politiker war das keine Notlösung. Sie wollten unter Einschluß der Kommunisten ein Staatswesen aufbauen, das die Ströme des Sozialismus und der „westlichen“ Demokratie vereinen und als Brücke des westlichen Europa zur Sowjetunion dienen sollte. Den Sowjets begegneten die Tschechen und Slowaken nach der Befreiung mit viel Achtung, ja mit Sympathie. Die globale Konfrontation des Jahres 1948, die zur Alleinherrschaft der Kommunisten führte, zerstörte die Errungenschaften der kommunistisch– demokratischen Koalition und unterbrach die Verbindungslinien zum Westen. Sie konnte aber die Hoffnungen nicht austilgen, die sich mit dem tschechoslowakischen Weg zum Sozialismus verbunden hatten. Die Reformkommunisten der 60er Jahre wurden zu „Jägern nach der verlorenen Tat“ (Milan Kundera). Man muß diesen Hintergrund sehen, um Übereinstimmung wie Differenzen zwischen dem Projekt der Perestrojka und dem Prager Frühling beurteilen zu können. Die gemeinsamen Ausgangspunkte sind evident: Initiative der Parteiführung angesichts der Krise, überragende Bedeutung einer kritischen Öffentlichkeit, Anerkennung der Autonomie ökonomischer Prozesse, Demokratisierung im Rahmen des Parteimonopols. Aber die Unterschiede sind nicht weniger gravierend: Während Gorbatschow durch den Rückgriff auf Theorie und Praxis des „authentischen Leninismus“ gleichzeitig auch die Kontinuität der sowjetischen Entwicklung seit dem Oktober postuliert, war die Prager Reform 1968 geprägt von dem Verlangen zu brechen, von einer das ganze Land ergreifenden Rechenschaftslegung, von Erschütterung, Einsicht und neuer Tatkraft. In der Sowjetunion wird heute noch die moderne Geschichte weitgehend mit der Geschichte der KPdSU gleichgesetzt. In der CSSR waren 1968 von Anfang an die „Parteilosen“ und ihr Schicksal seit 1948 in der Öffentlichkeit präsent. Es war gerade die Loyalität und die Mitarbeit der nichtkommunistischen Kräfte, die die überwältigende Unterstützung der Reformkommunisten erst möglich machte. 1968 wurde in Prag an eine alte Debatte angeknüpft, die einst Thomas G. Masaryk eröffnet hatte: Wie kann ein kleines Volk als Nation sich mit einer universellen Idee verbinden und damit seine enge, seine marginale Existenz überwinden? In der Sowjetunion werden jetzt erst vorsichtig Überlegungen zur künftigen Rolle der Sowjetunion als Weltmacht und gleichzeitig europäischem Land angestellt. Gorbatschow hat in Prag Renaissance, Aufklärung und die sozialistische Idee zu den gemeinsamen Fundamenten des „Europäischen Hauses“ gezählt. Aber die Frage blieb ungestellt, wie Rußland und später die Sowjetunion sich in diesem europäischen Haus eingerichtet haben und wie sie ihr künftiges Verhältnis zu den anderen Mietern definieren. Wende der Wegzeichen? Gibt es Anzeichen dafür, daß die Sowjetunion eine neue Außenpolitik konzipiert, die schließlich auch ein verändertes Verhältnis zu ihrem mittelosteuropäischen, also auch tschechoslowakischen, Vorhof einschließen könnte? Zeichen des Umdenkens sind sichtbar. Sie betreffen zunächst die Theorie des internationalen Klassenkampfs. Da der Atomkrieg mit der Vernichtung aller Zivilisation endet und die Menschheitsprobleme nur gemeinsam bewältigt werden können, wird die Idee der friedlichen Koexistenz zur Vorstellung von der Interdependenz der Systeme erweitert. Daher die Bergsteiger–Metaphorik in Gorbatschows Prager Rede - entweder die gesamte Seilschaft stürzt ab, oder sie schafft gemeinsam den Weg zum Gipfel. Damit wird die Konzeption von sich gegenüberstehenden Lagern nicht aufgehoben, aber die Bedeutung einer bipolaren Weltsicht wird relativiert. Mit Blick auf die ostmitteleuropäischen Verbündeten betonte Gorbatschow in Prag das Prinzip der Gleichheit und der gegenseitigen Verantwortung. Er sprach von der Achtung für Freunde und von der Berücksichtigung ihrer Interessen. Die Rede von der Pflicht der sozialistischen Länder, die sozialistischen Errungenschaften in jedem Lande gemeinsam zu verteidigen, unterblieb - liegt hierin ein indirektes Abrücken von der Breschnew– Doktrin? Den Journalisten der „Unita“, die lustlos die obligatorische Frage nach seiner Einschätzung des sowjetischen Ein marschs 68 stellten, gab Gorbatschow im Mai 1987 folgende rätselhafte Antwort: „Die Bewertung der Ereignisse von 1968 in der CSSR ist vor allem die eigene Angelegenheit der tschechoslowakischen Genossen.“ Demnach wäre der Überfall der Sowjetunion und die immer noch andauernde Truppenstationierung eine innere Angelegenheit der CSSR? Im gleichen Interview erklärte Gorbatschow, die Beziehungen der Sowjetunion zu den osteuropäischen Ländern, wie sie „historisch gewachsen sind“, seien eine „politische Realität“, die respektiert werden müsse, weil sonst „das europäische Gleichgewicht gestört werden kann“. Es verhalte sich genauso wie bei den Beziehungen der westeuropäischen Länder untereinander und zu den USA. Die Dinge anders zu sehen, hieße, auf Realpolitik zu verzichten. Aus diesen Äußerungen ergibt sich ein eindeutiges Kriterium. Verschiedene Wege zum Sozialismus sind dann tolerierbar, wenn die „gewachsenen Bindungen“, d.h. wenn die militärische und ökonomische Integration des Blocks sowie die führende Rolle der Partei in jedem Land, die über das Bündnis wacht, nicht gefährdet werden. Obwohl Gorbatschow Kritisches zum Blockdenken anmerkt (“man darf die Welt nicht nur in zwei Farbtönen malen“) heißt das nicht, daß er die Perspektive der Blockauflösung für realistisch hält. Im „eigenen“ Block strebt er - das beweisen bisher allerdings nur Worte - einen stärkeren Interessenausgleich und rationalere Beziehungen in Ökonomie und Politik an. Die Frage ist Wie und mit Wem - speziell im Fall der CSSR. Grenzen des sozialen Pluralismus Gorbatschow kann in der CSSR bei der Umgestaltung des „Wirtschaftsmechanismus“ im engeren Sinn auf die Zusammenarbeit des betrieblichen Managements und der Wirtschaftswissenschaftler zählen. Kernpunkt ist hierbei die Überzeugung, daß sich Material– und Energieverschwendung, exzessive Lagerhaltung, Vorbeiproduzieren am Bedarf, schließlich die immer stärker fallende Arbeits– und Kapitalproduktivität nur abstellen lassen, wenn die Betriebe auf eigene Füße gestellt werden, ein differenziertes Lohn system eingeführt wird, die Preise sich hauptsächlich auf dem Markt bilden und die Zentrale sich auf indirekte Steuerungsmittel zurückzieht. Das war im übrigen bereits die Grundlinie der von Ota Sik 1968 vorgeschlagenen Reform, an deren ersten Schritten auch der jetzige Ministerpräsident Strougal beteiligt war. Ähnlich wie in der Sowjetunion sind die Gegner der Wirtschaftsreform in der CSSR in den aufgeblasenen Planungsapparaten und in der Bürokratie der zahllosen Branchenministerien zu finden. Die Forderung nach deren Reduzierung bzw. Abschaffung läutet deshalb in beiden Ländern eine schroffe Auseinandersetzung innerhalb der Machtelite ein. Das trifft umso mehr auf diejenigen Abteilungen der Parteiapparate zu, die parallel zum Staatsapparat die Wirtschaft „leiten“ und durch ständige operative Eingriffe chaotisieren. Gleichlaufend sind auch die Interessen an einer stärkeren Regionalisierung der Planung, überhaupt an einer Dezentralisierung des Staatsapparats. Da die Wirtschaftsreform Methoden entwic keln muß, mithilfe derer sich entgegenlaufende Interessen austragen lassen, da mit anderen Worten Elemente des sozialen Pluralismus (im Gegensatz zum politischen) entwickelt werden müssen, steht die Frage von Arbeiterselbstverwaltung und autonomer Gewerkschaftsarbeit auf der Tagesordnung beider Länder. Gorbatschow tritt bisher für eine eingegrenzte Selbstverwaltung ein, bei der die Arbeitskollektive über ihre Arbeitsbedingungen bestimmen (etwa wie im Volvo–Modell in Schweden) und das betriebliche Management gewählt wird, dann allerdings nicht den Direktiven und der Kontrolle eines Arbeiterrats unterworfen ist. Die Gewerkschaften hat er nachdrücklich zur Interessenvertretung der Kollegen und zum Kampf gegen technokratische Tendenzen aufgerufen, ohne allerdings ein Wort zu ihren Kampfmitteln zu sagen. In der CSSR würde eine Übernahme dieser Politik jedoch in direkter Nachfolge zum Prager Frühling stehen. Um diesen Eindruck zu vermeiden, hat Husak deshalb lediglich einen Gesetzentwurf angekündigt, bei dem die Arbeitskollektive ihre Vorarbeiter wählen und über die Arbeitsorganisation mitbestimmen können. Eindringlich hat einer der Führer der „Betonfraktion“, Politbüromitglied Alois Indra, davor gewarnt, die Grenzen zu überschreiten: „Wir dürfen Interessenpluralismus nicht mit Versuchen zur Wiederbelebung des politischen Pluralismus - z.B. im Sinne der Legalisierung einer organisierten politischen Opposition - verwechseln.“ Indra, der nur vage von Ausdrucksmöglichkeiten für heterogene Interessen spricht, versucht die Parteiführung festzunageln. Er sagt: „Wir“, meint damit aber die Kräfte im Partei– und Regierungsapparat, für die eine erfolgreiche Wirtschaftsreform ohne Schritte in Richtung betrieblicher, gewerkschaftlicher und lokaler Demokratisierung unmöglich ist. Und hat Indra nicht recht? Kann Wirtschaftsreform und „sozialer Pluralismus“ ohne einen Umschwung in der öffentlichen Meinung, ohne „Glasnost“ durchgeführt werden, und würde „Glasnost“ nicht zwangsläufig eine Bewegung hervorrufen, die zu den Positionen des Jahres 1968 zurückkehrt? Dieser neuralgische Punkt verbindet die um den schieren Machterhalt kämpfenden „konservativen“ Gruppierungen in beiden Parteien. Gorbatschow steht vor einer schwierigen Wahl. Die Husak– Führung kann die Krise nicht meistern und verstärkt die Anti–Reformtendenzen in der KPdSU, sie hat aber den Vorzug der Botmäßigkeit. Eine reformerische Parteiführung stünde hingegen vor der Notwendigkeit, der eigenen Bevölkerung ein Kompromißangebot zu unterbreiten. Sie wäre auch für Gorbatschow in der Frage der ökonomischen Integration schwierig, denn sie müßte die Produktion nicht in erster Linie auf die Bedürfnisse des sowjetischen Marktes umstellen, sondern auf diejenigen Produkte, in denen die CSSR auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig werden kann. Nationale Aussöhnung? Andererseits könnte sich eine stärkere Orientierung der CSSR auf ihre traditionellen westlichen Märkte auch für die Sowjetunion als günstig erweisen - allerdings nur langfristig. Ein Zielkonflikt. Den weitesten Anstoß auf der Linie eines Kompromisses hat bislang Strougal unternommen. Er sprach im Mai dieses Jahres von der Notwendigkeit einer nationalen Aussöhnung und von der Möglichkeit, an bestimmte Elemente des 68er–Reformkurses anzuknüpfen. Da nichts ohne Absicherung geschieht, wird er die Worte des Gorbatschow–nahen Professors Ambarzumow im Ohr gehabt haben, für den im Gegensatz zur „konterrevolutionären“ ungarischen Entwicklung 1956 der Reformkurs von 1968 in der CSSR „offener“ gewesen sei und „Raum für neue Entwicklungen im Sozialismus“ gelassen habe. Gesetzt den Fall, daß sich nach einem Abtritt Husaks die bisher vereinzelten Absichtserklärungen zu einer Linie der Reform verdichten: Wird diese KP überhaupt in der Lage sein, einen Reformkurs zu steuern, und wird es in der Gesellschaft starke Kräfte geben, die sich für einen solchen Kurs engagieren? Die erste dieser Fragen ist unter den unabhängigen demokratischen Kräften in der CSSR umstritten. Die einen meinen, die Generation der Reformkommunisten, auf die Gorbatschow jetzt zählen müßte, sei entweder in der Emigration oder in der Charta 77. Was allein zähle, sei die unabhängige Arbeit für die Menschenrechte, für einen autonome Kultur. Gegenteiliger Ansicht sind ehemalige Reformkommunisten wie Jaroslaw Sabata, der dafür plädiert, sich gerade jetzt in die Prozesse einzuschalten, die zur Herausbildung der Reformtendenz führen werden. Einigkeit herrscht dagegen bei den unabhängigen Demokraten darüber, daß in der jetzigen Phase der Verunsicherung des Machtapparates der Spielraum für staatsunabhängige „bewußtseinsbildende“ Aktivitäten größer zu werden beginnt und viele Menschen aus ihrer politischen Lethargie erwachen. Die Repressionsorgane wollen sich jetzt nicht zu sehr exponieren, vor allem, wenn keine klaren Weisungen vorliegen. Prozesse werden verschoben, die persönliche Überwachung gelockert. „Sich auf das Privatleben zurückzuziehen, ist auf die Dauer ermüdend“, sagt der katholische Philosoph Radim Palous. In den Künstler– und Schriftstellerverbänden regen sich erste zaghafte Stimmen. Es wächst eine diffuse Stimmung aus steigender Unzufriedenheit und steigender Erwartung. Für Strougal, Chnoupek und die ihren ist die Lage nicht chancenlos. Sie werden allerdings deutliche Signale senden müssen - auch und gerade in Richtung der „Partei der Ausgeschlossenen“, den 500.000, die ihr Engagement für einen Sozialismus mit menschlichem Gesicht seit 19 Jahren mit Diskriminierung und Demütigung bezahlt haben.

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