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Nicaragua: Ansturm auf Privatpraxen

■ Nicaraguas Gesundheitssystem acht Jahre nach der Revolution / Privatmedizin floriert auf Staatskosten / Impfkampagnen erfolgreich / Betreuung in Spitälern mangelhaft

Aus Managua Ralf Leonhard

Comandante Dora Maria Tellez, die 31jährige Gesundheitsministerin Nicaraguas, ist eine Frau, die gerne sagt, was sie denkt. Als sie kürzlich im Krankenhaus der Provinzstadt Chinandega nach den Problemen des dortigen Gesundheitswesens fragte, wurde sie mit Klagen überhäuft: das Spitalsgebäude sei veraltet, der Operationssaal funktioniere nicht, es gebe keine Wäsche, zu wenig Personal, Medikamente seien knapp, die Löhne viel zu niedrig und das Essen hundsmiserabel. Die sandinistische Funktionärin hörte geduldig zu und gestand, daß sie keine Lösung anbieten könne, weil alles nur noch viel schlechter werden würde. Das Gesundheitswesen in Nicaragua - einst der ganze Stolz der jungen Revolution - ist zum Krisenprojekt geworden. Darüber sind sich alle einig, die hier in Sachen Medizin etwas zu sagen haben, oder die in letzter Zeit mit der öffentlichen Gesundheitsversorgung zu tun hatten. Wurden 1983 noch fast 30 Prozent des Haushaltes in die Gesundheit der Bevölkerung investiert, so sind dieses Jahr gerade noch 12 Prozent veranschlagt. Obwohl die Investitionsstatistik annähernd den Niedergang der Medizin widerspiegelt, ist die Krise nicht allein mit Budgetzahlen zu erklären. Jeder fünfte, der an Kriegs– oder Unfallverletzungen stirbt, könnte durch adäquate Erste–Hilfe–Leistung gerettet werden. Die Zahl von Kleinkindern, die an Durchfallerkrankungen sterben, ist wieder am Zunehmen. Fehldiagnosen, Mangel an Medikamenten, endlose Wartezeiten und mangelnde Betreuung in den Spitälern, arrogante Behandlung durch Gesundheitspersonal im öffentlichen Bereich und schonungslose Beutelschneiderei der Wegelagerer in der Privatmedizin sind die Ursache. Die 40jährige Argentina Gonzalez war bereits dem Tode geweiht, als ein Privtarzt bei ihr fortgeschrittenen Gebärmutterhalskrebs konstatierte. Im Gesundheitszentrum ihres Bezirks in Managua, das sie nach anhaltenden Unterleibsschmerzen aufgesucht hatte, war sie auf Nierenleiden behandelt worden. Mit den makabren Anekdoten über Patienten, die aus den Spitälern mit Krankheiten, die sie zuvor nicht hatten, nach Hause kommen, Opfer von Unfällen, die mit einfachen Knochenbrüchen eingeliefert werden und wegen mangelnder Hygiene am Wundbrand zugrunde gehen, Kranke, die so lange auf ihre Operation warten müssen, bis das Leiden irreversibel ist, könnte man Seiten füllen. Die Erklärungen für die Mißstände sind vielfältig. Die Revolution hatte keinen Gesundheitsplan Als die Sandinisten 1979 mit einem Schlag von Dschungelkämpfern zu Staatsmännern wurden, brachten sie keinen Plan für die Entwicklung des Gesundheitswesens mit. Während des relativ kurzen Befreiungskrieges hatte sich keine revolutionäre Medizin herausgebildet, wie sie etwa bei der FMLN in El Salvador praktiziert wird. Minister des Ressorts wurde aus Proporzgründen der Neurochirurg Cesar Amador Kuehl, der während des Aufstandes gegen Somoza einen Sohn verloren hatte. Amador Kuehl führte das Ministerium wie eine Arztpraxis und war den ausländischen Spenden und Hilfswerken nicht ge wachsen, die scharenweise ins Land drängten, um Gesundheitsprojekte zu finanzieren. In Ermangelung eines umfassenden Planes mußten sich diese ihre Projekte selber suchen: hier ein Gesundheitszentrum, dort ein Operationssaal, ganz zu schweigen von Kleinspenden, wie medizinisches Gerät und Arzneimittel, die der Bevölkerung in hunderterlei Marken und Ausführungen eher den Gesetzen des Zufalls folgend, beschert wurden. Ausländische Organisationen wie „medico international“ machten in Nicaragua das Prinzip der Konferenz von Alma Ata heimisch, wo 1978 UNESCO und WHO in einer gemeinsamen Resolution eine Empfehlung für den Ausbau der Primärmedizin (“primary health care“) abgegeben hatten. Also: Weg von der arztbezogenen Medizin zu einer „environmental health“, in der Krankenschwestern und -pfleger die Hauptrolle spielen. Zunächst blieb auch gar keine andere Wahl, denn von den rund 1.500 im Jahre 1979 in Nicaragua praktizierenden Ärzten setzte sich fast ein Drittel in den ersten Wochen nach Somozas Sturz ins Ausland ab. Gesundheit sollte kein Privileg mehr sein Die Revolution brachte die Auffassung, daß Gesundheit ein Menschenrecht sei und daher allen zugänglich seien sollte. Daher mußte die Gesundheitsversor gung vor allem an der Basis forciert werden. Und der Einsatz von Mitgliedern der Massenorganisationen - eines der Leitmotive der sandinistischen Revolution - bewährte sich gerade auch im medizinischen Bereich, wo akuter Mangel an Fachkräften herrschte. Anders wären die nationalen Impfkampagnen, mit deren Hilfe es gelang, Kinderlähmung, Cholera und Gelbfieber gänzlich auszurotten und Typhus, Masern und Keuchhusten weitgehend zurückzudrängen, gar nicht denkbar ge wesen. Binnen weniger Jahre gelang es, die Kindersterblichkeit von 121 pro 1.000 auf 74 pro 1.000 zu reduzieren. Die Zahl der Arztbesuche verfünffachte sich in sechs Jahren. Der bewußtseinsbildende Effekt blieb jedoch aus. „Soweit die Kampagnen und Seminare von oben steuerbar sind, werden sie verwirklicht. Aber das Bewußtsein der Basis hat sich dabei nicht erweitert“, meint der Vertreter eines ausländischen Hilfswerks resignierend. Funktionäre des Gesundheitsministeriums beklagen, daß die Zahl der Gesundheitsbrigadisten von 40.000 auf 5.000 geschrumpft ist. Die „Entarztung“ der Medizin, von der viele geträumt hatten, fand nicht statt. Krankenschwestern und -pfleger sind nach wie vor nicht nur unter bezahlt, sondern auch auf der sozialen Stufenleiter nicht höhergekommen. Das System ist autoritär und arztfixiert geblieben. Seit medizinische Versorgung nicht mehr ein Privileg der Reichen ist, sondern auch den Bauern im entlegensten Winkel zugänglich gemacht wird, drängt alles in die Spitäler und will von Vollmedizinern behandelt werden, am besten gleich von Spezialisten. Der Filter in Form von Gesundheitszentren (in größeren Orten) und Gesundheitsposten (in kleineren Dörfern) funktioniert nicht. So kommt es, daß die Kranken die lokalen Instanzen umgehen und gleich das nächstgelegene Krankenhaus aufsuchen. Von über fünfeinhalb Millionen im Jahre 1985 registrierten Konsultationen fanden über zwei Millionen in den 30 Krankenhäusern des Landes statt und die restlichen dreieinhalb Millionen in den 472 Gesundheitsposten und -zentren. Die wenigen Ärzte sind hoffnungslos überlastet, nehmen sich für die Patienten kaum Zeit. Die Gefahr von Fehldiagnosen steigt. In der Überlastung des Personals sieht Dr. Leonel Arguello, Chef der epidemiologischen Abteilung im Gesundheitsministerium, denn auch einen der wichtigsten Gründe für die schlechte Betreu ung. Die meisten, so wissen Ärzte zu berichten, könnten genausogut von einer Krankenschwester oder einem Gesundheitsbrigadisten behandelt werden. Staatliche Unterstützung für Privatmedizin Die Medien berichten seit einigen Wochen regelmäßig über die aufopferungsvolle Arbeit von Medizinerbrigaden: allen voran ein paar Gynäkologen und Augenärzte, die allsonntäglich rund 30 chirurgische Eingriffe vornehmen. Die Antwort der revolutionären Mediziner auf die Beutelschneiderei der Privatmediziner wird von vielen belächelt. Denn die Warteliste von über 5.000 Patienten, die operiert werden müssen, könnte, selbst wenn keine neuen hinzukämen, in weniger als drei Jahren nicht abgebaut werden. Da die Gefahr besteht, daß sich das Leiden verschlimmert oder gar zum Tod führt, sucht jeder, der es sich leisten kann, den Spezialisten in der Privatklinik auf. Da diese jedoch in der Regel nicht mit dem für chirurgische Eingriffe nötigen Gerät ausgerüstet sind, schieben die Ärzte ihre Privatpatienten auf der Warteliste hinauf und operieren sie im Krankenhaus. „Für weniger als eine Million ist heute keine Operation mehr zu haben“, bestätigt der deutsche Neurochirurg Carlos Vanzetti, dessen Patienten sich oft wundern, daß er kein Geld verlangt. OP–Benützung, Anästhesie und Personal ist in den Spitälern oft gratis. So unterstützt der Staat indirekt die Privatmedizin. Obowohl die Revolution ein einheitliches Gesundheitssystem geschaffen hat, ist es ihr nicht gelungen, gegenüber der Ärzteschaft ein festes Reglement durchzusetzen. Es gibt weder einen Honorartarif, der die Patienten schützt, noch eine Standesordnung, die Fahrlässigkeit und Kunstfehler sanktionieren würde. Ärzte, die für ihre Halbtagsschicht im Krankenhaus ein lachhaftes Spitzengehalt von 150.000 bis 200.000 Cordobas beziehen, verdienen in ihrer Privatordination zusätzlich vier bis fünf Millionen. Vor allem bei Zahnärzten hat es sich eingebürgert, Honorare gleich in Dollars zu kassieren. Carlos Vanzetti kann die merkantile Einstellung seiner Kollegen schlecht verstehen: „Es gibt hier kaum Ärzte aus Leidenschaft, die von ihrem Beruf besessen sind.“ „Diese Leute sollte man alle nach Miami schicken“, fordern die Vertreter der radikalen Linie, wie der Schweizer Chirurg und Berater im MINSA Rio Spirgi, der auf eine jahrlange Erfahrung beim palästinensischen „Roten Halbmond“ zurückblickt. Andere sehen die Lösung in der Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für die Privatmedizin. „Viele fürchten, daß die Kubanisierung - also die völlige Verstaatlichung des Gesundheitswesens - droht, wenn es eines Tages genug sandinistische Ärzte gibt“, erklärt der Gynäkologe Dr. Lombardo Martinez, der mehr Kontrolle über den öffentlichen Sektor verlangt, damit dieser effizienter und konkurrenzfähiger wird. Für Dr. Martinez ist an der schlechten Betreuung in den Spitälern zu 25 Prozent der Krieg schuld und zu 75 Prozent die schlechte Verwaltung. Für Carlos Vanzetti ist das Verhältnis umgekehrt. Denn auch die schlechte Verwaltung kann seiner Meinung nach nicht vom Krieg losgelöst gesehen werden. Seit 1980 hat die Contra 68 Gesundheitseinrichtungen zerstört und 40 Angehörige medizinischer Berufe ermordet. In dem Maße wie die Verteidigungskosten stiegen, mußten die anderen Ressorts Kürzungen einstecken. Dora Maria Tellez, die 1985 das Gesundheitsministerium von der sandinistischen Soziologin Lea Guido übernahm, erklärte das Jahr 1987 zum „Jahr der Erhaltung“. Also Stopp für Neuinvestitionen im Gesundheitsbereich. Schon die Erhaltung des Vorhandenen ist allerdings mit den vorhandenen Mitteln kaum machbar. Denn Fachleute versichern, daß neue Spitäler in den ersten drei Jahren nach ihrer Inbetriebnahme genausoviel Kosten verursachen wie der Neubau. Die Erhaltung des Gesundheitssystems wird also wieder von Spenden abhängig. Die vielen Klagen, so Dr. Leonel Arguello, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß einiges geleistet wurde: Außer Costa Rica ist Nicaragua das einzige Land in Zentralamerika, das die Kinderlähmung ausgerottet hat. Und das Überwachungssystem für ansteckende Krankheiten ist, so Dr. Arguello, sogar besser als in Costa Rica, wo in dreißig Jahren friedlicher Entwicklung ein beispielgebendes Gesundheitssystem ausgebaut wurde.

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