: Angst vor der deutschen Neutralität
In keinem anderen Land Westeuropas sind die Abrüstungsvorschläge von Michail Gorbatschow auf ähnliche Skepsis gestoßen wie in Frankreich. Verantwortliche aller Parteien mit Ausnahme der Kommunisten sind sich einig in der Befürchtung, daß eine von Moskau inszenierte Abrüstungsdynamik eines Tages auch das Modernisierungsprogramm der „force de frappe“ ins kritische Rampenlicht der Weltöffentlichkeit bringen könnte. Darüber hinaus aber schimmerten in den Reaktionen der französischen Politiker tiefergehende Sorgen durch. Verteidigungsminister Andre Giraud gab den französischen Tenor an, als er nach der Prager Rede des KPdSU–Generalsekretärs im Februar von der Gefahr eines „neuen München“ sprach. Das Münchner Abkommen von 1938, das Hitler, Mussolini, Chamberlain und der französische Regierungschef Daladier unterzeichneten, besiegelte damals die deutsche Annexion eines Teils der Tschechoslowakei und gilt bis heute als Symbol einer Politik des „Friedens um jeden Preis“. „Munich“ avancierte in Frankreich zum historischen Vorwurf gegenüber der Volksfrontregierung (1936–1938) und gegenüber dem Pazifismus schlichtweg. „Munich“ war erneut ein Thema, als die Friedensbewegung in der Bundesrepublik gegen die Nachrüstung demonstrierte. Heute nun beschwört Andre Giraud das Münchner Abkommen, weil er fürchtet, die Bundesdeutschen könnten um „des Friedens um jeden Preis“ willen einer sowjetischen Verführung zum Neutralismus erliegen. Ex–Verteidigungsminister Charles Hernu warnt im Gespräch mit der taz bereits vor einer „deutschen Entgleisung“. Solche Gedanken können nicht erstaunen. Frankreichs Willen zur westeuropäischen Aufrüstung entsprang immer auch dem Bemühen, die Westbindung der Bundesrepublik zu festigen. Vielleicht heute mehr denn je. Denn neu ist, daß die französischen Verteidigungspolitiker in ihrem derzeitigen Kalkül einen Machtfaktor berücksichtigen, den sie zuvor nicht kannten: die bundesdeutsche Friedensbewegung. So sehr man in den verantwortlichen Kreisen die Stationierung der französischen Neutronenbombe in der Bundesrepunblik befürwortet, so besorgt äußert man sich auch - nicht etwa über die Haltung einer zukünftigen Bundesregierung in dieser Frage, sondern über die Reaktion der öffentlichen Meinung auf der anderen Seite des Rheins. Jean–Michel Fauve Sprecher im französischen Verteidigungsministerium weiß genau, warum für ihn die Pläne für ein atomares deutsch–französisches Verteidigungsbündnis nicht auf den öffentlichen Platz gehören. Zur taz sagte er: „Angesichts des derzeitigen Zudstands der öffentlichen Meinung in der Bundesrepublik wäre es ein schwerer sozialpsychologischer Fehler, wenn die deutschen Machthaber sich heute für eine nukleare Zusammenarbeit mit Frankreich aussprechen würden.“ G.B.
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