: Achse Bonn–Paris: Stationierung
■ Frankreich hat die Neutronenbombe zur Serienreife entwickelt / Hadesraketen mit Neutronen
Die Doppelte Nulllösung ist noch nicht einmal unterschriftsreif, da propagiert Frankreich die nächsten Aufrüstungsschritte. Gegen das angebliche konventionelle Übergewicht des Warschauer Pakts hilft nach Einschätzung französischer Militärexperten nur noch die Neutronenbombe. Die atomare Superwaffe soll jedoch nicht auf französischem Territorium stationiert werden, sondern an der Ostgrenze der Bundesrepublik. In seltener Einmut wollen Frankreichs Regierungsparteien und die oppositionellen
„Die Versuche mit der Neutronenbombe sind abgeschlossen. Wir wissen, wie man sie konstruiert und produziert. Alles ist bereit, und die öffentliche Meinung steht hinter uns. Es fehlt allein die Unterschrift des Präsidenten.“ So beschreibt der ehemalige französische Verteidigungsminister, der Sozialist Charles Hernu, im Gespräch mit der taz den derzeitigen Entwicklungsstand der französischen Neutronenbombe. Bereits vor drei Jahren ließ Staatspräsident Mitterrand durchblicken, daß sein Land in der Lage sei, die Neutronenbombe serienmäßig herzustellen. Doch wohin mit der Bombe? Und in welchem Verteidigungskonzept die Bombe einsetzen? Mitterrand hat bis heute darüber nicht entscheiden wollen. Aber sein über Jahrzehnte treuer militärpolitischer Berater Charles Hernu weiß wie immer Rat. Er will, daß die französische Neutronenbombe im Rahmen einer deutsch–französischen Verteidigungsvereinbarung in der Bundesrepublik stationiert wird. Hernu hält diese Absicht für die große Aufgabe des nächsten französischen Präsidenten, der 1988 gewählt wird. Ihm zur Seite steht der ehemalige Verteidigungs– und Premierminister Pierre Messmer, heute einflußreicher Fraktionschef der gaullistischen Regierungspartei RPR. Messmer wünscht, daß Deutsche und Franzosen in Verhandlung über den Einsatz und die Stationierung der französischen taktischen Atomwaffen auf deutschem Boden treten. Die Neutronenbombe, die zu den taktischen Atomwaffen zählt, ist für ihn „das Mittel, jenem unlösbaren Dilemma zu entkommen“, das widersprüchliche bundesdeutsche und französische Strategieinteressen bisher stellten. Messmer und Hernu schlagen für den Fall der Stationierung der Neutronenbombe auf deutschem Boden gemeinsam vor, der Bundesregierung die „Zweischlüssellösung“ für den Einsatz der Waffe anzubieten. Eine solche Lösung würde Bundeskanzler Kohl das Mitentscheidungsrecht über den Einsatzbefehl der Neutronenbombe einräumen. Die französische Neutronenbombe mit der „Zweischlüssellösung“ für die Bundesrepublik? Gegenüber der Öffentlichkeit links und rechts vom Rhein war davon bisher keine Rede. Das allerdings will wenig sagen: In den Köpfen der Verteidigungsexperten der Pariser Machtelite sind die Absichten Hernus und Messmers längst unausgesprochener Konsens. „Diese Dinge“, erklärt Jean– Michel Fauve, Sprecher des französischen Verteidigungsministeriums und Mitglied des Ministerkabinetts, gegenüber der taz, „können heute noch nicht in die Öffentlichkeit getragen werden. Aber eine Lösung muß in den kommenden zwei, drei Jahren erreicht werden. Alle Mittel müssen eingesetzt werden. Dazu gehört auch die Stationierung der mit der Neutronenbombe ausgestatteten französischen Hades–Raketen an der Elbe.“ Im strategischen Denken sind sich Bonn und Paris entscheidende Schritte nähergekommen. KPdSU–Generalsekretär Gorbatschow hat diese Entwicklung beschleunigt: Seine Abrüstungsvorschläge haben insbesondere bei französischen Politikern Verwirrung gestiftet und darüber hinaus die Sorgen um ein „Desengagement der Amerikaner in Europa“ oder gar der „Entnuklearisierung Europas“ (Premierminister Chirac) verstärkt. Politiker wie Hernu und Messmer betrachten die bevorstehende Einigung der Großmächte auf die sogenannte „Doppelnullösung“ als Herausforderung für eine neue westeuropäische Verteidigungsstrategie. Streit um de Gaulle Die Neutronenbombe steht für die französischen Militärstrategen heute im Zentrum der Diskussion. Seit De Gaulle haben sich die Interessen von Rüstungspolitikern und Atomtechnokratie erheblich verändert. Diese Interessen widersprechen heute der 25 Jahre alten gaullistischen Abschreckungsdoktrin. Die Integration der Neutronenbombe in ein westeuropäisches Verteidigungskonzept erscheint als das beste Mittel, um die alten gaullistischen Tabus zu brechen. So unantastbar diese Grundsätze der gaullistischen Abschreckungsdoktrin für viele Franzosen immer noch sein mögen - kaum ein Verantwortlicher glaubt mehr an sie. Die Doktrin hing von historischen Bedingungen ab, die sich heute aus der Sicht der Strategen überlebt haben. Ihre neuen Interessen liegen auf der Hand: 1.) In den sechziger Jahren entsprach die Doktrin dem Entwicklungsstand der französischen Atomwaffen. Heute ist die Atommafia im staatlichen „Kommissariat für Atomenergie“ (CEA) durch ihr ständiges Bestreben nach der Verfeinerung der Atomwaffentechnik in der Lage, die Neutronenbombe zu bauen. Sie ist für ein Konzept der offensiven „Vorneverteidigung“ bestimmt, wie es die NATO im Rahmen ihrer „flexible response“–Strategie (airland battle, FOFA), nicht aber die gaullistische Doktrin des „ultime avertissement“ (“letzte Warnung“ des Gegners vor dem Einsatz der strategischen Atomwaffen) vorsieht. 2.) Seit der Zeit De Gaulles versucht Frankreich, beim atomaren Wettrüsten die technologischen Standards der Großmächte zu erreichen. Dieser Versuch ist aufgrund der finanziellen Mittel, die Frankreich zur Verfügung stehen, hoffnungslos. Der nationale Charakter der noch gültigen Doktrin (der ausschließlichen Verteidigung Frankreichs) blockiert die Aussicht, französische Rüstungs projekte europäisch zu finanzieren. 3.) Die Strategen hinterfragen heute den Abschreckungswert der „force de frappe“. Die Vorstellungen von der Durchführbarkeit begrenzter atomarer oder konventioneller Kriege in Europa machen eine Krisentheorie unglaubwürdig, die im Spannungsfall sofort auf die Drohung mit der vollständigen Zerstörung des Gegners setzt (Abschreckung „des Starken durch den Schwachen“ - „du faible au fort“). 4.) Die französische Außenpolitik verzichtet seit dem Abtritt De Gaulles auf dessen Bemühen nach gleichwertigen Beziehungen mit Moskau und Washington. Das Konzept der Abschreckung „nach allen Seiten“ existiert in der politischen Praxis nicht mehr. Franzö sische Verteidigungsdokumente enthalten im Anhang ausschließlich die Listen sowjetischer Großstädte als Zielobjekte der strategischen Atomwaffen. Zudem teilt man die allgmeine westliche Besorgnis vor der angeblichen konventionellen Überlegenheit des Warschauer Paktes. Ökonomische und technologische Zwänge der Aufrüstung und die Anpassung an die Logik des Blockdenkens verlangen nach einer Revision der französischen Abschreckungsdoktrin. Diese ist in Paris ohne ein Zugehen auf Bonn nicht denkbar. Die Bundesrepublik lockt mit ihrer wirtschaftlichen und finanziellen Stärke die französischen Rüstungsinteressen mehr als jeder andere mögliche Partner. Ihre Einbindung in ein französisches Verteidigungskonzept ist durch ihre Lage im Vorfeld gegenüber dem Osten für Frankreich von vorrangiger strategischer Bedeutung. Keiner erkannte dies so gut wie Mitterand. Getragen seit 1981 vom politischen Konsens in der atomaren Verteidigungsstrategie, ergriff er in der deutsch–französischen Frage die Initiative. Als die Bundesregierung 1983 mit dem Rücken zur Wand vor der Durchsetzung des NATO–Doppelbeschlusses stand, war Mitterrand für Kohl der Retter in der Not. Vor dem Bundestag verteidigte der französische Präsident die Pershing–Stationierung in der Bundesrepublik gegen die Friedensbewegung. Gleichzeitig feierten Kohl und Mitterrand den 20. Jahrestag der Unterzeichnung des Elyseevertrages und bekräftigten die militärischen Bestimmungen des Vertrages. Seither treffen sich die Außen– und Verteidigungsminister beider Länder vor jedem Gipfeltreffen, und ein deutsch– französischer Verteidigungsausschuß tagt viermal im Jahr. Hernu und Wörner begriffen, daß sich die atomare Ausrichtung der französischen und die konventionelle Ausrichtung der bundesdeutschen Verteidigungspolitik nicht notwendigerweise widersprechen mußten, sondern sich im Gegenteil in der Perspektive eines westeuropäischen Verteidigungskonzepts ergänzen könnten. Darüberhinaus machte sich Frankreich Sorgen um die Westintegration der Bundesrepublik. Mit der bundesdeutschen Friedensbewegung, deren Beweggründe westlich des Rheins auf allgemeines Unverständnis stießen, entstand erneut das französische Trauma eines neutralen, wiedervereinigten Deutschlands. Unter diesen Vorzeichen kam es vor allem in Paris zu Entscheidungen, die weit mehr als einen symbolischen Charakter haben. Die Aufstellung einer „schnellen Eingreiftruppe“ (FAR) mit 42.000 Mann, die Hernu 1983 beschloß, sollte die Sorgen der Hardthöhe um ein mangelhaftes konventionelles Engagement Frankreichs beseitigen. Die Wiederbelebung der „Westeuropäischen Union“ (WEU) 1984, die Bonn und Paris gleichermaßen betrieben, sollte die einzige verteidigungspolitische Organisation stärken, in der die Bundesrepublik und Frankreich vertraglich auf europäischer Ebene in gegenseitiger Pflicht stehen. Schließlich tat Mitterrand im Februar 1986 einen entscheidenden Schritt, als er Kohl versprach, ihn „über den eventuellen Einsatz der taktischen französischen Waffen auf deutschem Gebiet zu kosultieren“. Die Zusammenarbeit zwischen Bonn und Paris entwickelte sich bis zu einem Punkt, den die beiden Leiter der offiziellen Forschungsinstitute für Außenpolitik (DGAP, Bonn und IFRI, Paris), Karl Kaiser und Pierre Lellouche im Herbst 1986 so beschrieben: „...es (scheint), als habe das deutsch–französische Zweigespann ein historisches Stadium erreicht, das nur durch einen ebenso historischen wie qualitativen Sprung überwunden werden kann.“ Wie aber soll dieser Sprung aussehen? Kaiser und Lellouche empfehlen der Bundesrepublik die „Hinnahme einer französischen Nuklearoption in der Verteidigung“. Gemeint ist, daß die Bundesrepublik nicht mehr nur französische Soldaten, sondern auch französische Atomwaffen unter Pariser Kommando tolerieren und dies als der eigenen Sicherheit zuträglich erklären soll. Ein Abkommen beider Länder über den Einsatz der französischen Atomwaffen würde französische und bundesdeutsche Verteidigungspolitik konzeptionell aneinanderkoppeln. Der „qualitative Sprung“ Dieser „qualitative Sprung“ im deutsch–französischen Verhältnis, den die Stationierung französischer Atomwaffen, bzw. der Neutronenbombe in der Bundesrepublik darstellen würde, ist keine Utopie mehr. Sogar in der Öffentlichkeit überstürzten sich in den letzten Wochen die Erklärungen der Politiker. Für die französischen Sozialisten preschte Ex– Premierminister Laurent Fabius nach vorne und schlug vor, die französische „Nukleargarantie“ auf die Bundesrepublik auszudehnen. Wenige Tage später forderte Ex–Präsident Giscard, die Pershing 1A–Raketen der Bundeswehr mit französischen Atomsprengköpfen auszustatten. Noch Ende Juni schrieb der Spiegel, Fabius stehe mit seinem Vorschlag „ziemlich allein“. Das Gegenteil jedoch ist richtig. Was hier sichtbar wird, ist lediglich die Spitze des Eisbergs. „Das Prinzip einer Ausweitung des französischen Atomschirms muß diskutiert werden, dennoch sind Fortschritte im deutsch–französischen Verhältnis nicht gesichert“, sorgt sich Jean–Pierre Chevenement, ehemaliger Erziehungsminister und führender Kopf der französischen Sozialisten. „Das Konzept für die taktischen Atomwaffen muß deshalb im Zentrum unserer Reflexionen über eine europäische Verteidigung stehen.“ So umschreibt der Politiker den Willen des Großteils der sozialistischen Parteispitze, eine deutsch–französische Einigung über den Einsatz der taktischen französischen Atomwaffen herbeizuführen. Für eine solche Einigung konnten Kohl und Mitterrand schon auf ihrem Gipfeltreffen im Februar 1986 eine wichtige Voraussetzung festlegen. Demnach sollen französische Atomsprengköpfe nicht auf deutschem Boden explodieren, das heißt, weder in der BRD noch in der DDR. Dieses Übereinkommen soll für den Einsatz der neuen taktischen französischen Atomrakete Hades gelten, deren Stationierung als Ersatz für die alte Pluton–Rakete (Reichweite: 120 km) im Rahmen des Modernisierungsprogramms der „force de frappe“ für 1992 vorgesehen ist. Die Hades–Rakete wird eine Reichweite bis maximal 350 Kilometer haben und ist als Trägerrakete für die Neutronenbombe vorgesehen. Die Tatsachen sind also vorgegeben. Der sozialistische Ex–Verteidigungsminister Charles Hernu weiß es nur zu gut: „Wenn man die Hades auf deutschem Boden stationiert, reicht sie über seine Grenzen hinaus.“ Wenn ... das ist die Frage. Die Antwort versteht sich für Hernu und seine Kollegen von selbst. „Ich weiß nicht, warum die Pluton hinter dem Rhein steht. Ebenso dumm wäre es, die Hades dort zu stationieren“, sagt Jean– Marie Daillet, Vorsitzender der UDF–Verteidigungskommission. metern Reichweite sollen in Zukunft mit ihrer atomaren Fracht, der Neutronenbombe, bis weit in den Osten reichen. Bereits im Februar 1986 haben sich Kohl und Mitterand darauf verständigt, daß keine französischen Raketen auf deutsches Gebiet gerichtet werden sollen. Das ist aber nur möglich, wenn sie nicht in Frankreich stationiert sind. Um die Bundesdeutschen für die neue Aufrüstung zu ködern, locken die Franzosen mit der Verfügungsgewalt über diese Atomraketen. Die Übergabe eines „Zweitschlüssels“ an Bonn für die taktischen Atomraketen Frankreichs wird in Paris ohne große Bedenken befürwortet. (siehe Interviews Seite 9)
bombe sollen an die Elbe / Zweitschlüssel für Bonn vorgesehen / Aus Paris Georg Blume
Für Daillet, unter Giscar bereits Vize–Chef der parlamentarischen Verteidigungskommission, heute Mitglied im außenpolitischen Ausschuß, wäre es ein „konkreter Beweis“ für den westeuropäischen Verteidigungswillen, wenn die Hades–Rakete in naher Zukunft mit Neutronensprengköpfen bestückt an der Elbe stände. Daillet steht hinter Hernu und Messmer nicht zurück: Er schlägt der Bundesregierung ebenfalls Gespräche über die atomare „Zweischlüssellösung“ vor. Hinter ihm steht mit der UDF die drittstärkste Partei Frankreichs, deren Präsidentschaftsanwärter Raymond Barre 1988 aussichtsreichster Kandidat der Rechten ist. Barre selbst beließ es bisher bei seinen vergleichsweise banalen Äußerungen zur „notwendigen deutsch–französischen Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik (Barre). Im März verdeutlichte er allerdings erstmals in London seinen Standpunkt zur Neutronenbombe: „Es war ein großer Fehler und eine große Schwäche, bisher auf die Produktion der Neutronenwaffe zu verzichten. Der Fehler muß behoben werden. Es ist absurd, uns allen eine Waffe vorzuenthalten, deren Beitrag zur Abschreckung von wirklich kapitaler Bedeutung wäre.“ Um Barre genauer zu verstehen, so weiß jeder französische Journalist, muß man mit seinen Beratern sprechen. „Wir machen die Neutronenbombe, um Deutschland zu verteidigen“, erklärt der Abgeordnete Edmond Alphandery, Barre–Assistent in europäischen Gelegenheiten. „Die Lage ist bestürzend. Wir brauchen konventionelle französische Truppen und taktische französische Atomwaffen mit der Neutronenbombe an der Elbe. Frankreich muß das Prinzip der ultime avertissment (letzte Warnung) aufgeben.“ Alpahdeery beschreibt den Imperativ für die zukünftige französische Verteidigungspolitik: „Längerfristig von einer autonomen europäischen Verteidigung zu sprechen, schockiert mich nicht, aber heute müssen wir zu der Kopplung zwischen den USA und Europa stehen. Das ist die Voraussetzung zu der Verständigung mit Deutschland.“ Alphandery drückt mit dieser These eine Haltung aus, die sich bei den französischen Militärstrategen erst in den letzten Jah ren durchsetzte. Sowohl Sozialisten wie Gaullisten hatten lange Zeit europäische und NATO–Interessen in Sicherheitsfragen politisch gegeneinander ausgespielt. US–kritische Stellungnahmen waren in Frankreich immer populär. Heute wissen sie, daß ein solches Verhalten gerade das Verhältnis zur NATO–treuen Bundesrepublik erschwert. Die „Stärkung des europäischen NATO–Pfeilers“ heißt nun ihre Zauberformel für das deutsch–französische Aufrüstungsprogramm. Dabei ist von einer Rückkehr Frankreichs in die NATO nicht die Rede. Längst ist man sich jenseits aller gaullistischen Dogmatik einig, daß der französische Platz außerhalb der NATO kein unüberwindbares Hindernis für die militärische Zusammenarbeit mit Bonn ist. Mitten im Trend zu weniger Dogmatik liegt auch Premierminister Jacques Chirac. Sein im September 1986 formulierter Satz, wonach „über die Sicherheit Frankreichs an der Elbe und über das Überleben Frankreichs am Rhein entschieden werde“, wurde oft zitiert, läßt aber verschiedene Interpretationen zu. In einem Welt–Interview Ende Juni bezeichnete Chirac die Hades–Stationierung in der Bundesrepublik als „nicht aktuell“ und blieb auch damit ungenau. Immerhin sprach sich Chirac, ebenfalls im September 1986, für eine „Diversifizierung“ der taktischen französischen Atomwaffen aus. Experten sahen in dieser Äußerung einen Beweis für die Entschlossenheit des Premierministers, die Neutronenbombe in das französische Verteidigungskonzept zu integrieren. Allerdings verbietet die Funktion des Premierministers heute, seine militärstrategischen Auffassungen zu präzisieren, solange Mitterrand als Präsident und Oberbefehlshaber der Armee über die Richtlinien der französischen Verteidigungspolitik wacht. So blieb es neben Altgaullist Pierre Messmer Chiracs Vertrautem Francois Fillon, Vorsitzender der RPR–Verteidigungskommission und des Verteidigungsausschusses im Parlament, überlassen, die Position der Gaullisten zu markieren: „Es muß Schluß sein mit Ausflüchten, die zum Hindernis für die unentbehrliche Stationierung der Neutronenwaffe wurden. Es liegt nun an uns, die Bundesrepublik Deutschland davon zu überzeugen, daß diese Waffe eine wirksame Antwort auf das Ungleichgewicht der konventionellen Kräfte in Europa darstellt“, erläuterte Fillon im April vor dem Parlament und nahm damit für die Stationierung der Neutronenbombe in der Bundesrepublik Stellung. Auch Verteidigungsminister Andre Giraud, der seit dem Pariser Regierungswechsel im März 1986 im Amt sowohl auf Chirac wie Mitterrand Rücksicht nehmen muß, hat sich immer deutlich ausgedrückt. Noch im Februar vor seinem Amtsantritt vertrat Giraud in Le Monde die Auffassung, daß „die Bedingungen des Einsatzes der Neutronenbombe (...) dem deutsch–französischen militärischen Dialog Realitätsgehalt geben könnten“. Als Minister stellte Giraud 14 Monate später im April 1987 dem Parlament das militärische Rahmengesetz für die Jahre 1987 bis 1991 vor. Darin taucht eine Formel auf, nach der die taktischen französischen Atomwaffen über den ihnen traditionell aufgetragenen Abschreckungswert hinaus eine „eigene militärische Effizienz“ aufweisen sollen. Von einer solchen Effizienz kann im Bereich der taktischen Atomwaffen nur bei der Neutronenbombe die Rede sein. Diese Formel, so bestätigt Messmer, wurde hinsichtlich einer möglichen Entscheidung über die Serienproduktion der Neutronenbombe verwandt. „Man sieht bei diesem Gesetz“, so Messmer, „daß die Entscheidung über die Serienproduktion zwar noch nicht gefallen, aber auch nicht verboten ist.“ Wird die Bombe schon produziert? Die Frage stellt sich, ob Frankreich die Neutronenbombe bereits heute in Serie herstellt. Messmer verneint, da sich eine solche Entscheidung nach seiner Auffassung im Verteidigungshaushalt nicht verstecken ließe. Auch Hernu glaubt es nicht, er spricht von der fehlenden Unterschrift Mitterrands. In der Tat hat der Präsident bei einer solchen Entscheidung das letzte Wort. Mitterrand aber hat sich zur Neutronenbombe nach dem Regierungswechsel nicht mehr geäußert. Zuvor formulierte er stets allgemein, daß seine Entscheidung von der Entwicklung des Ost–West–Verhältnisses abhinge. Allerdings konnte man aufhorchen, als Verteidigungsminister Giraud im April er klärte, daß man hinsichtlich der Serienproduktion der Neutronenbombe „die Ungewißheit herrschen lassen sollte“. Diese Aussage spitzt der Sprecher des Verteidigungsministeriums Fauve noch zu. Auf die Frage, ob die Öffentlichkeit es erfahre, wenn die diesbezügliche Entscheidung gefallen sei, antwortet er mit einem klaren „Nein“. Und dagegen ist nach Verfassung und Gesetz nichts einzuwenden. Verteidigungspolitische Entscheidungen des Präsidenten können geheim bleiben. Das französische Angebot Niemand soll sich also wundern, wenn er eines Tages vor vollendeten Tatsachen steht. Doch davon abgesehen: Das französische Angebot, die Neutronenbombe in der Bundesrepublik zu stationieren, ist dennoch schon heute aktuell. Die wichtigsten Verteidigungspolitiker der drei großen Parteien, Hernu für die Sozialisten, Messmer und Fillon für die RPR und Daillet und Alphandery für die UDF sprechen - gemeinsam mit anderen - das Angebot offen aus. Sie können auf das unausgesprochene Einverständnis der beiden rechten Präsidentschaftsaspiranten Chirac und Barre zählen. Mitterrand selbst wartet ab, aber läßt sie unwiders prochen gewähren. Ihr Angebot steht im Einklang mit den Programmen ihrer Parteien. Sie vertreten zugleich die Interessen von Rüstungs– und Atomlobby. Ihre Ansichten werden im Pariser Verteidigungsministerium verstanden und unterstützt. Was fehlt, ist ein Entgegenkommen von Bonner Seite. Eine deutsche Aufforderung zur Stationierung sozusagen. Undenkbar ist das in der Tat nicht. Mit großer Mehrheit hatte sich der deutsche Bundestag schon 1978 gegen den Widerstand eines Teiles der SPD für die Stationierung der US–amerikanischen Neutronenbombe in der Bundesrepublik ausgesprochen. Präsident Carter entschied dann aufgrund der Empörung sowohl der euroäischen wie der US–amerikanischen Friedensbewegung, die Neutronenbombe nicht zu bauen. Doch auf eine solche Reaktion ist bei einem französischen Präsidenten wenig Verlaß.
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