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Todesurteil oder Sterbehilfe - ein Präzedenzfall

■ Zum ersten Mal in der Bundesrepublik soll auf Antrag der Angehörigen ein Richter darüber entscheiden, ob ein im Koma liegender Mensch weiter leben soll / Wann hört der Mensch auf Mensch zu sein? / Oft sind es Angehörige die die Situation nicht aushalten

Von Vera Gaserow

„Ach, wegen der Sterbehilfesache“ - natürlich weiß der Berliner Rechtsanwalt Dr. Bernd Bendref genau, warum ich bei ihm anrufe, denn in den letzten Tagen ist er mit einem brisanten Rechtsstreit ins öffentliche Interesse gerückt. Dr. Bendref vertritt die Familie, die zum ersten Mal in der Bundesrepublik über einen Gerichtsbeschluß erwirken will, daß ihr seit zwei Jahren im Koma liegender Ehemann bzw. Vater nicht weiter medizinisch versorgt wird. Oder krasser ausgedrückt: Ein Gericht soll die Ärzte und Pfleger anweisen, ihren Patienten sterben zu lassen. Was wir bisher nur durch spektakuläre Gerichtsurteile aus den USA kennen, ist in der Bundesrepublik ein Präzedenzfall. Hier wissen wir zwar von den medienwirksamen Auftritten eines Herrn Hackethal und vereinzelten Beispielen, in denen Ärzte ihren Patienten auf Wunsch todbringende Dosen von Shmerzmitteln verabreichten. Aber bisher gab es keinen Fall, wo eine Familie über ein Gericht den Tod ihres Angehörigen erwirken wollte. Auch Rechtsanwalt Bendref ist klar, daß es hier um eine Grundsatzentscheidung geht, „und die will ich auch“. Wenn die Familie damit einverstanden ist, werde er damit „durch alle Instanzen gehen“, sagt er, und daß „da einmal eine Grenze gesetzt werden muß“. Wo muß da eine Grenze gesetzt werden? „Daß man jemanden sieht, der eigentlich kein Mensch mehr ist“, meint Anwalt Bendref, „daß der Ehrgeiz der Ärzte so weit geht, daß sie sagen: Was wir medizinisch haben, setzen wir auch ein.“ Der Patient, um den dieser Rechtsstreit auf den ersten Blick zu gehen scheint, ist für Anwalt Bendref „nur noch eine biologische Hülle. Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand so leben möchte.“ Aber es gibt so viele schreckliche Situationen, in denen man nicht leben möchte und andere leben dennoch darin. „Am besten ist“, rät der Anwalt, „Sie schauen sich den Mann mal im Krankenhaus an.“ „Der Mann“ „Der Mann“ heißt Dimitri G., ist Grieche und jetzt 39 Jahre alt. Vor fünf Jahren kam er mit seiner aus Rumänien stammenden Frau und seinen inzwischen fast erwachsenen Kindern nach Berlin. Nach drei Jahren, im August 1985, passierte das, was sein Leben und das seiner Familie veränderte. Bei einem Autounfall wurde Herr G. als Beifahrer schwer verletzt, der Fahrer des Wagens beging Fahrerflucht. Nach einer ersten Phase auf der Intensivstation kamen die Ärzte zu der vernichtenden Diagnose „apallisches Syndrom“, was so viel heißt wie: hochprozentige Gewißheit eines tiefen Komas, keine Heilungs– oder Verbesserungschancen oder, wie es in der Medizinersprache heißt, „funktionelle Trennung von Hirnmantel und Hirnstamm“. Seit fast zwei Jahren liegt Dimitri G. jetzt im Berliner Max– Bürger–Krankenhaus in tiefer Bewußtlosigkeit. Ob er etwas empfindet, ob er vielleicht dennoch wahrnimmt, weiß niemand. Sicher ist nur, daß er keinerlei Reaktionen zeigt, aber sein Körper ohne großartige medizinische Apparate und Medikamente lebt. Allerdings wird er, weil sein Schluckreflex nicht funktioniert, über eine Sonde künstlich ernährt, wie viele andere schwerkranke Patienten auch, und ein Tubus am Hals soll ihm das Atmen erleichtern. Ansonsten, so versichert das Krankenhaus, wird Herr G. nur gepflegt. Daß er Schmerzen hat, vermutet nur seine Familie. Ärzte, Pfleger und selbst der Rechtsanwalt meinen, daß es für ein Leiden keinerlei Anzeichen gibt. Herr G. liegt einfach bewußtlos da und wird das, wenn keine Komplikationen auftreten, unter Umständen noch Jahre tun. Geht das, darf das, ist das noch menschlich, ist das überhaupt aushaltbar, und wenn, für wen? „Wie lange liegt der Mann schon da im Koma? Zwei Jahre? Na, das reicht ja auch“, heißt das schnelle Urteil einer taz–Kollegin, und daß er da auch „so einen Fall“ habe, berichtet ein befreundeter linker Rechtsanwalt. Da hätte er auch gern eine juristische Eingriffsmöglichkeit und fände es gut, wenn es mal zu einer grundsätzlichen Klärung kommen würde. In seinem „Fall“ ist die Entscheidung vielleicht einfacher: Der Mann hatte sich entschieden, zu sterben, und liegt nach einem mißlungenen Selbstmordversuch im Koma. Aber Herr G.kann keine Absichten mehr äußern und auch nicht den Wunsch, zu sterben. Deshalb fühlt sich die Familie jetzt in der Verantwortung, entscheiden zu müssen, und verlangt von einem Vormundschaftsgericht die Durchsetzung dieser längst gefällten Entscheidung. „Die Familie“ „Ja, ok, kommen Sie vorbei“, sagt eine junge Männerstimme am Telefon, als ich die Nummer der Familie G. anwähle, die Rechtsanwalt Bendref mir ohne Rücksprache mit seinen Mandanten gegeben hat. Ich bin nicht die erste Journalistin, die in den letzten Tagen die Familie G. in ihrer Berliner Neubauwohnung aufgesucht hat. Reporter von Springer, vom Fernsehen und vom Stern waren schon da .Eigentlich, so sagt Frau G., will sie diesen Rummel gar nicht. Aber sie sagt auch nicht nein, verbietet dem Rechtsanwalt nicht, mit diesem Fall an die Öffentlichkeit zu gehen, der eigentlich nur sie selber angeht. Frau G. spricht nur sehr wenig deutsch. Ihre Tochter und ihr Sohn dolmetschen, aber vieles von dem, was wir zwei Stunden lang besprechen, mag durch Sprachbarrieren und unterschiedliche Kulturen anders gemeint gewesen sein, als es gesagt wurde. „Meine Mutter will meinem Vater helfen“, übersetzt die Tochter immer wieder und wehrt sich gegen den im Raum stehenden Vorwurf, daß sie ihren Vater töten wollen. Wie zur Verteidigung legt sie Polaroid–Fotos von ihrem bewußtlosen Vater auf den Tisch. „So ein Mensch kann nicht mehr leben. Wir verstehen nicht, warum die Ärzte ihn einfach weiterlassen. Wir kommen aus einem Land, wo man so etwas nicht macht.“ In der Anfangszeit ist die Familie täglich ins Krankenhaus gegangen, und „manchmal hatten wir das Gefühl, daß er uns sieht oder hört“, erzählt die Tochter. Aber es war wirklich nur ein Gefühl, denn die Diagnose der Ärzte sagt etwas anderes, und seitdem sind die Besuche im Krankenhaus auch seltener geworden. „Die Ärzte haben gesagt, ich soll mit ihm reden. Aber es ist egal, ob ich mit einer Wand rede oder mit meinem Mann“, meint Frau G., und daß sie schließlich nicht verrückt sei. „Die Ärzte sollen realistisch sein. Er hat keine Chance mehr. Er wird nie wieder Mensch sein.“ Aber was macht das Menschsein aus, daß das Hirn funktioniert? Und wenn auch ohne die Arbeit des Gehirns dennoch ein Leben ist? Für Familie G. ist das kein Leben, das ist offenkundig, aber daß es in erster Linie für sie selber kein Leben ist, mögen sie nicht sagen, obwohl es so offensichtlich ist. Denn Herr G., so meinen auch Mediziner, leidet unter dieser Situation wahrscheinlich am wenigsten. Über ihr Leiden zu reden, daß sie die Situation nicht mehr aushalten können, fällt Familie G. aus verständlichen Gründen schwer, denn es würde so egoistisch klingen. Und so sprechen sie nicht darüber, daß Frau G. sich schon vor dem Unfall von ihrem Mann getrennt hatte, eigentlich ein eigenes Leben anfangen wollte, und dieses Leben jetzt doch wieder auf unbestimmte Zeit an ihren Mann gebunden ist. Sie reden nicht über das ewige Dran–Denken, die deprimierenden Krankenhausbesuche. Die Kinder sprechen nicht darüber, daß ihr Vater eigentlich wie tot ist, aber wenige Kilometer weiter dennoch lebt, daß ihnen diese Situation keinen Raum für notwendige Trauer läßt, weil das wichtige Abschiednehmen immer wieder hinausgeschoben wird. Nur einmal bricht aus Frau G. der verständliche Wunsch hervor, diese Situation, in der keine Zukunft, kein Leben geplant werden kann, nicht mehr aushalten zu müssen. „Ich will endlich Klarheit“, sagt sie. Und einmal kann auch die Tochter das Entsetzen und die Abwehr vorsichtig formulieren, die sie beim Anblick des Vaters überkommt. „Ich kann manchmal nicht glauben, daß das mein Vater ist. So habe ich meinen Vater doch nie kennengelernt“, erzählt sie, und daß sie es dann nicht aushält, dicht neben ihm zu stehen. Niemand hat mit Familie G. darüber geredet, wie man mit diesem Problem umgehen kann, wenn es überhaupt ein Umgehen damit gibt. Kein Psychologe, kein Berater, keine Selbsthilfegruppe hat versucht, ihr die Situation zumindest zu erleichtern. Ärzte und Pfleger haben sich um ihren Pa tienten gekümmert, aber nicht um die Angehörigen, die eine Betreuung mindestens genauso nötig gehabt hätten. Familie G. zumindest hat den Kontakt zu den Ärzten auch nicht gesucht, auch was die konkrete Pflege ihres Angehörigen anging. Nein, eigentlich habe man bisher nicht mit den Ärzten geredet, ob es da nicht eine stille Lösung ohne eine spektakuläre Gerichtsentscheidung geben könnte. Warum nicht? Frau G. zuckt die Achseln, sie weiß es nicht. Die Ärzte Vielleicht weiß sie, daß die Position der beteiligten Ärzte des Max–Bürger Krankenhauses in diesem Fall ziemlich klar ist. Die Ärzte können und dürfen sich dazu zwar nicht direkt äußern, aber die zuständige Charlottenburger Gesundheitsstadträtin nimmt nach eingehenden Diskussionen mit dem Krankenhauspersonal dazu Stellung. „Herr G. wird nicht therapiert im Krankenhaus“, erklärt die von der AL nominierte Gesundheitsstadrätin Annette Schwarzenau, „er wird einfach nur gepflegt wie viele andere kranke, bewußtlose, verwirrte oder alte Menschen auch. Und es gibt keinen Grund, diese Pflege nicht weiterzubetreiben. Sicher muß jeder Mensch die Freiheit haben, sich umzubringen, und wir wissen auch, daß Sterbehilfe tagtäglich in den Krankenhäusern im Einvernehmen mit Patienten oder Angehörigen läuft, wenn jemand starke Schmerzen hat. Aber das Problem ist, was tun wir bei bewußtlosen Menschen? Herr G. macht nicht den Eindruck, als ob er leidet. Wir müssen uns doch immer fragen: Wer leidet hier eigentlich? Der Patient, die Ärzte und Pfleger oder die Familie? Daß die Familie hier leidet, das ist ganz sicher, und da müssen wir helfen. Aber die Pflege des Patienten G. zu unterlassen, ihn nicht mehr zu ernähren bedeutet, ihn umzubringen.“ Und das, so deutet Stadträtin Schwarzenau an, würden die beteiligten Ärzte und Pfleger zumindest in ihrem Krankenhaus, in dem mehrere Apalliker und nicht mehr geistig wache alte Menschen gepflegt werden, auch nach einer entsprechenden Gerichtsentscheidung nicht zulassen. Selbstverständlich seien Ärzte nicht nur dazu da, den Tod zu verhindern, sondern auch sterbende Menschen zu begleiten, meint der Präsident der Berliner Ärztekammer, der ehemalige AL–Stadtrat Ellis Huber. „Aber wer sagt uns, daß wie in diesem Fall ein Mensch, der nur noch mit einem Stammhirn lebt, nichts mehr empfindet? Die Ärzte müßten den Mann doch verhungern lassen, und das wäre qualvoll. Sicher, für die Familie ist die Situation unerträglich.“ Familie G. und ihr Rechtsanwalt wollen Klarheit. Die Richter „Die Richter müssen wissen, was sie tun“, meint Frau G., „ich kenne die Gesetze nicht.“ Aber ein Gesetz für solche Probleme wird auch der Berliner Amtsrichter Ahrendt nicht zur Hand haben, der voraussichtlich im August eine Entscheidung treffen wird, denn ein solches Gesetz gibt es nicht. Er kann sich nur allgemein auf das Grundrecht auf Menschenwürde beziehen, unter dem Rechtsanwalt Bendref auch das Recht auf einen würdigen Tod verstanden haben will. Und der Vormundschaftsrichter kann sich an die Richtlinien der Ärztekammer und des letzten Deutschen Juristentages zur Sterbehilfe halten. Nach den Grundsätzen der Ärztekammer ist kein Arzt verpflichtet, jedes denkbare medizinische Mittel bei einem Patienten einzusetzen. Aber er ist niemals berechtigt, ein Mittel zu Herbeiführung des Todes zu verabreichen, wohl aber Medikamente zur Schmerzlinderung, die eine indirekte Sterbehilfe sein können. „In dem konkreten Fall des Berliner Patienten“, so meint der Präsident der Bundesärztekammer, Fritz Vilmar, „wären die Ärzte nicht verpflichtet, z.B. bei einer auftretenden Lungenentzündung Antibiotika zu geben. Aber dem Mann die Nahrung vorzuenthalten, hielte ich für den ersten Schritt zu einer aktiven Sterbehilfe, und das ist nicht vertretbar.“ Auch dem Deutsche Juristentag hat es in seiner Diskussion über die Sterbehilfe abgelehnt, Ärzten per Gesetz ein Recht zu einer aktiven Lebensbeendigung einzuräumen. Und gerade vor dem Hintergrund der Geschichte der deutschen Ärzteschaft im Dritten Reich ist diese Entscheidung gegen einen gesetzlich normierten Freiraum nur berechtigt. Berlins Ärztekammerpräsident Ellis Huber hat nicht nur wegen der von deutschen Ärzten praktizierten Euthanasie eher Angst vor einer gesetzlichen Normierung: „Das Recht, zwischen Leben und Tod zu entscheiden, führt sehr schnell zum Größenwahn, und dieses Recht sollte keinem Berufsstand zugebilligt werden. Wir kommen dann sehr schnell wieder an den Punkt, zwischen lebenswert und lebensunwert zu entscheiden. Mir ist lieber, wir haben keinen gesetzlichen Freiraum und jeder Arzt muß sich dann im Einzelfall verantworten und wird dann vielleicht auch freigesprochen.“ Und daß im 3. Reich manches anders gewesen wäre, wenn die Ärzteschaft mehr auf die ethische Verpflichtung besonnen als hinter Gesetzen versteckt hätte, meint auch Ärztekammerpräsident Vilmar. Wenn Vormundschaftsrichter Ahrendt jetzt darüber zu entscheiden hat, wird er nicht nur über Herrn G. entscheiden. Denn sollte er dem Hauptantrag der Angehörigen stattgeben, jede medizinische Versorgung zu beenden, dann könnte diese Entscheidung einen Damm einreißen, der bisher noch Schutz war. Aus ihrer Erfahrung als Krankenschwester in einer Altenklinik berichtet Annette Schwarzenau, daß sehr viele Angehörige von verwirrten, geistig nicht mehr zurechnungsfähigen alten Menschen nur darauf warteten, mit einer juristischen Handhabe deren Leben beenden zu können. „Und was da dann einbricht, macht mir einfach Angst.“ Egal, wie das Vormundschaftsgericht jetzt diese Grundsatzproblematik entscheidet, für Herrn G. ist ein menschenwürdiges, und das heißt eben auch ruhiges Sterben außerhalb des Rampenlichts weiter entfernt als je zuvor. Ein Einvernehmen zwischen Angehörigen und Ärzten, Herrn G. bei einer auftretenden Krise still sterben zu lassen, scheint jetzt unmöglich, denn nun schaut die Öffentlichkeit darauf, was mit diesem Mann passiert, der längst zu einem Fall geworden ist.

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