„Wasserwerferscheiben sind durchsichtig“

■ Letzter Verhandlungstag vor der Sommerpause im Sare–Prozeß / Die 31.Strafkammer kletterte in den WaWe9 / Der Augenschein machte gezielte Fragen möglich / Polizeigutachter sagte im Widerspruch zu seinen Kollegen aus

Aus Frankfurt Heide Platen

Mittwoch mittag in der Frankfurter Innenstadt, eine Szene wie bei einer Demonstration: Polizisten in olivgrünen Kampfanzügen, Absperrgitter und der große Wasserwerfer „WaWe9“. Nur die Demonstranten fehlen. Dafür haben sich rund 15 „Gerichtsbeteiligte“ zur Wahrheitsfindung eingefunden. Kameras klicken pausenlos, als der Vorsitzende der 31. Großen Strafkammer, Richter Scheier, samt Beisitzern, Schöffen, Nebenklägern und Rechtsanwälten in den Wasserwerfer klettert, der am 28. September 1985 den Demonstranten Günter Sare überrollte und tötete. Seit Ende Mai dieses Jahres stehen Kommandant Reichert und Fahrer Hampl unter der Anklage, Sare fahrlässig getötet zu haben, vor Gericht. Die Exkursion am letzten Verhandlungstag vor der Sommerpause gerät zu einem bedrückenden Spektakel. Mutter und Schwester von Günter Sare stehen ebenso vor dem Wasserwerfer wie die Angeklagten Reichert und Hampel während die versammelten JournalistInnen die Frage umtreibt: War es nun dieser oder nur ein gleicher Wasserwerfer? Währenddessen erklomm der körperlich kleine Richter das Ungetüm flinker als der Staatsanwalt. Er wechselte die Sitzplätze mit den Nebenklage–Vertretern Temming und Borowsky, die einen Wasserwerfer aus dieser Perspektive vorher auch nicht gekannt hatten. Die durchaus makabre Vorstellung war nicht überflüssig. Das Gericht hatte sich etliche Verhandlungstage bemüht, technische Einzelheiten über den WaWe9 und über die Tätigkeit der Besatzung zu erfahren. Es war immer wieder mit ausweichenden, unwahren oder durch einschrän kende Aussagegenehmigungen begrenzten Aussagen abgespeist worden. Am Nachmittag nach der Besichtigung war es immerhin möglich, dem sachverständigen Techniker des Landeskriminalamtes, Wolfgang B., gezielt Fragen zu stellen. Bei der „Inaugenscheinnahme“ ergab sich, daß die Sicht - zumindest für den Kommandanten - aus dem über acht Meter langen Fahrzeug heraus kaum einen „toten Winkel“ hat. Die Frontscheiben des von Daimler Benz in Serie für den Baubedarf entwickelten Gerätes sind von der Firma Ziegler vergrößert worden. Ein Monitor sichert zusätzlichen Rundumblick, verstellt allerdings dem Fahrer die Sicht nach rechts. Solche Sonderausstattung ist nach der Zulassungsordnung genehmigungspflichtig. Der WaWe9, dessen tiefster Punkt 37 Zentimeter über dem Boden liegt, darf außerdem, anders als Lastkraftwagen, auf einen Unterfahrschutz verzichten. Der Sachverständige sagte in krassem Gegensatz zu anderen Polizeizeugen aus. Der Angeklagte Reichert hatte bei einer Vernehmung berichtet, er sei „zwei bis drei Sekunden“ abgelenkt gewesen und habe Sare nicht gesehen, weil er die Knöpfe zur Beimischung von CN–Gas ins Wasser bediente. Ein Kollege hatte ihm attestiert, der Ausbilder und langjährige Kommandant sei „immer etwas langsam mit den Knöpfen“ gewesen. Sachverständiger B. nun vertrat die Ansicht, Reichert sei im Gegenteil „sehr schnell“ gewesen. Zudem sei er sicher, daß die Besatzungen des seit 1980 eingesetzten WaWe9 nur aus „den erfahrensten Leuten“ aus den alten WaWe–4–Mannschaften rekrutiert wurden. Sachverständiger B. räumte auch mit einer oft wiederholten anderen Aussage auf. Mehrere Polizisten, die die Wasserrohre bedienten, hatten immer wieder behauptet, der Wasserstrahl lasse sich gar nicht gezielt auf einzelne Menschen richten. Wenn Sare, wie Zeugen aussagten, im Wasserstrahl getaumelt und zu Fall gekommen sei, dann sei das der pure Zufall gewesen. Trotz Aussageeinschränkung versicherte der Sachverständige dem Gericht, es sei nicht nur möglich, sondern auch in den Bedienungsanweisungen vorgesehen, daß gezielte „Wasserstöße“ auf einzelne Personen abgegeben werden. Den Befehl erteilte der Kommandant. Er nenne die Richtung und müsse dazu auch das Ziel beschreiben, z. B. „einen Störer im gelben Mantel mit Molotowcocktail in der Hand“. Reicherts Verteidigung ließ sich von dem Sachverständigen bestätigen, daß gültige Dienstvorschriften für den WaWe9 nicht existieren. Die Aufgaben seien - abgeleitet vom WaWe4 - neu verteilt worden, aber rechtlich nicht festgelegt. Daß das Tonbandgerät, mit dem der Funkverkehr, die vorgeschriebenen Warnungen an die Demonstranten bei Wasser– oder Gas–Einsatz und das Einsatz–Tagebuch aufgezeichnet werden, am Tattag nicht funktionierte, wunderte auch den Sachverständigen. In der Vorcheck–Liste, die vor jedem Einsatz auszufüllen ist, sei davon nichts erwähnt gewesen. Die Nebenklage vermutete, daß Reichert eigenmächtig gehandelt habe, als er CN–Gas beimischte. Gegen Ende des langen Verhandlungstages äußerte sich Richter Scheier bei einer komplizierten theoretischen Erörterung, die sich mit der in der Sonderzulassung des WaWe9 einkalkulierten Sichtbehinderung im Bereich von zwölf Metern befaßte. Er erinnerte sich an den Augenschein: Durchsichtig seien die Scheiben immerhin gewesen.