Polen wollen die Wahrheit über Massengräber

■ Der durch Stalin verfügte Mord an Tausenden polnischen Offizieren im Jahre 1940 läßt die polnische Öffentlichkeit nach weiteren sowjetischen Kriegsverbrechen fragen / Gorbatschow will die totgeschwiegenen „weiße Flecken“ in der beiderseitigen Geschichte klären

Warschau (dpa) - Seit im Nordosten Polens ein Massengrab aus dem Jahre 1945 entdeckt wurde, ist in der Volksrepublik eine Diskussion über die Rolle der Roten Armee bei der Befreiung Polens entflammt. Handelt es sich bei den Toten im Massengrab bei Giby um diejenigen, die im Juli 1945 von den sowjetischen Militärbehörden aus ihren Wohnungen geholt wurden und seither spurlos verschwunden sind? Oder handelt es sich um die Skelette deutscher Sol daten, wie sich durch Funde von Erkennungsmarken und Uniformknöpfen nach der Öffnung der Gräber herauszustellen schien? Knapp einen Monat nach der Entdeckung des Massengrabs hat ein polnisches „Bürgerkomi tee“ mit der Aufklärung dieser Fragen begonnen: Es will die Schicksale der „vermißten“ Personen klären. Die Gerüchte, die sich um das Grab von Giby rankten, zeigen, wie die noch immer ungeklärten Fragen der unbewältigten Vergangenheit zwischen Polen und der Sowjetunion die Atmosphäre vergiften können. Inzwischen hat das Bürgerkomitee in Suwalki die polnischen und sowjetischen Behörden, die katholische Kirche und das Rote Kreuz gebeten, bei der Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen behilflich zu sein. Im Zuge seiner Politik der „Glasnost“ - der Offenheit - hat der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow den Polen angeboten, die bisher totgeschwiegenen „weißen Flecken“ in der gemeinsamen Geschichte zu klären. Im Mai trat in Moskau eine polnisch–sowjetische Historikerkommission zusammen. Die Polen entsandten allerdings vor allem treue Parteimitglieder. Für die breite Öffentlichkeit war das Ergebnis zunächst enttäuschend: Von einer Öffnung der sowjetischen Archive war nicht die Rede. Die vielen dunklen Punkte in den Parteibeziehungen und sogar die Liquidierung der Führung der polnischen kommunistischen Partei durch die Komintern interessieren die Bevölkerung in Polen jedoch nur am Rande. Prüfstein für den Sinn und die Ehrlichkeit der Bemühungen ist und bleibt die Katyn–Frage: Das Schicksal von rund 15.000 polnischen Offizieren und Beamten der Feldgendarmerie und Polizei, die den Sowjets aufgrund des Hitler–Stalin–Pakts im September 1939 in die Hände fielen und von denen man seit dem Frühjahr 1940 keine Lebenszeichen mehr hatte. Im Jahre 1943 fanden die Deutschen im Wald von Katyn bei Smolensk 4.143 von ihnen in sieben Massengräbern. Es waren Offiziere des Lagers Kozielsk 250 Kilometer südöstlich von Smolensk, das im April 1940 geräumt wurde und dessen Insassen mit der Bahn zu einer Station bei Smolensk befördert worden waren. Wo die Gefangenen der beiden anderen Lager Starobielsk und Ostaschkow geblieben sind, bleibt ein Geheimnis. In Polen hat niemand Zweifel daran, daß auch sie von den Sowjets liquidiert wurden, doch wo ist unbekannt. Bis heute haben die Sowjets sich nicht zu den Exekutionen der polnischen Offiziere bekannt. Ihre Version, daß die Offiziere in der Nähe von Smolensk bei Straßenarbeiten beschäftigt gewesen seien und den Deutschen in die Hände fielen, glaubt kein ernstzunehmender polnischer Historiker. Dazu gibt es zu viele Aussagen von Überlebenden. Offiziell ist man bemüht, das Thema Katyn totzuschweigen. Auf dem Heldenfriedhof Powazki in Warschau entzünden seit Jahren Tausende von Menschen zum Jahrestag des Warschauer Aufstandes am 1.August auf einer Wiese neben dem Ehrenmal des Aufstandes Totenlichter für die Opfer von Katyn. Seit 1985 steht an dieser Stelle sogar ein offizielles Denkmal. Es trägt allerdings die Inschrift: „Den polnischen Soldaten, Opfern der Hitler–Faschisten, die in der Erde von Katyn ruhen“. Renate Marsch