Sündenbock BRD

■ Sowjetischer Außenminister sieht wegen Bonn Abrüstungspaket gefährdet

Nicht nur für den sowjetischen Außenminister stünde die Bundesregierung als Sündenbock da, wenn durch ihr zähes Beharren auf den 72 Pershing 1A–Raketen der Bundeswehr die Rüstungskontrollverhandlungen in Genf scheitern oder verwässert würden. Im US–Außenministerium und auch bei den europäischen Verbündeten geht man - trotz aller gegenteiligen Beteuerungen - im Grunde davon aus, daß die Pershing 1A zwar im taktischen Spiel des Verhandlungsprozesses eine Rolle spielen, grundsätzlich aber einem Übereinkommen nicht im Wege stehen dürften. Umso überraschender der schrille sowjetische Ton aus Genf: Indem Schewardnadse trotz des von der USA und der Sowjetunion immer wieder beteuerten Aufeinanderzubewegens die Bundeswehr–Pershings und deren amerikanische Atomsprengköpfe nicht als „Drittstaatensystem“ anerkennen will und zum Angelpunkt der Verhandlungen hochstilisiert, deutet er auf einen viel grundsätzlicheren Verdacht: Die Bundesrepublik möchte sich die Option für eine eigene Atommacht offenhalten. Daß man in Polen, der CSSR und auch in der DDR vor solch einer Perspektive erschaudert, ist leicht vorzustellen. Und der Wink, daß bei einem Festhalten an den Pershings durch die Bundesrepublik in diesen Ländern der Wunsch nach gleichartigen Waffen nicht mehr zu unterdrücken wäre, verweist auf die Stationierung von gleichwertigen Raketen mit Atomsprengköpfen unter sowjetischem Verschluß. Null–Null wäre dann in Europa zu Null–Komma–Fünf geworden. Wenn die Bundesregierung nicht in der Lage ist, Klarheit über den im Grundgesetz verankerten Verzicht auf Atomwaffen und über ihren Abrüstungswillen zu schaffen, dann muß die Stunde der Opposition schlagen. Es geht auch für die SPD nicht mehr an, sich mit dem Hinweis auf die Anfang der neunziger Jahre ohnehin fällige Verschrottung dieser Raketen um eine klare Stellungnahme zu drücken. Wenn jetzt nicht eindeutig der Verzicht auf die amerikanischen Atomsprengköpfe für die Pershing 1A erklärt wird, bleibt die Modernisierung dieser Waffe auch weiterhin offen und der Verdacht auf eine deutsche Atomwaffenoption erhalten. Wie lange noch will Genscher den Umtrieben der Stahlhelmer und dem Verteidigungsminister widerspruchslos zusehen und außenpolitisches Porzellan zerschlagen lassen? Erich Rathfelder