: Minamata - Monument einer Giftkatastrophe
■ 30 Jahre nach den Vergiftungen in der japanischen Minamata–Bucht sind die Qualen der Opfer noch allgegenwärtig / Ob der schuldige Konzern weiterzahlen oder ob die Affaire aus den Schulbüchern gestrichen werden soll, erhitzt die Gemüter
Von Michael Weisskopf
Minamata (wps) - Für Shinobu Sakamoto gleichchen die morgendlichen Routinetätigkeiten einem nicht endenwollenden Kampf. Meist schafft sie es erst nach vielen mühseligen Anläufen, ihre Bluse zuzuknöpfen und beim Versuch, den Frühstücksreis in ihren Mund zu befördern, bleibt auch einiges auf der Strecke. Wenn sie sich danach mit linkischen schildkrötengleichen Bewegungen auf den Weg zur Arbeit macht, so erzählt sie stockend und stotternd, denkt sie oft daran, „wie es wohl sein mag, rennen zu können, sich frei zu fühlen“. Jeder der schmerzhaften Schritte dieser etwa 30jährigen Frau ist ein Symbol für das Erbe menschlichen Leidens dieses idyllischen Hafenstädtchens, seit die erste große Umweltkatastrophe des modernen Industriezeitalters Minamata vor 30 Jahren traf. Wo Hiroshima für die Schrecken des Atomkriegs steht, ist Minamata das lebende Monument für die ökologische Apokalypse. Eine Generation ist vergangen, seit eine Chemiefirma Tonnen von Quecksilberabfällen in die Bucht von Minamata kippte; auf seinem Weg durch die Nahrungskette hat das Gift 700 Menschen getötet und mindestens 9.000 zu Krüppeln gemacht. Auch heute noch ist das Unglück allgegenwärtig in dieser 35.000–Einwohnerstadt. In den Krankenhäusern warten gelähmte, geistig behinderte Opfer auf den Tod. In Spezialwerkstätten versuchen leichter Behinderte wie Sakamoto, sich grundlegende Fähigkeiten fürs Überleben anzueignen. In den Gerichtsräumen wird immer noch gegen die Verursacher der Katastrophe geklagt. Der Hafen, in dem einst dichtgedrängt die Fischerboote lagen, ist jetzt mit Erde aufgeschüttet wor den, ein Drittel der Bewohner hat die Stadt verlassen. Jugendliche, die woanders ihr Glück suchen, versuchen meist, ihren Herkunftsort zu verbergen. Denn wer aus Minamata kommt, wird mit einiger Wahrscheinlichkeit von möglichen Heiratspartnern zurückgewiesen, die Angst vor Erbgutschädigungen späterer Kinder haben. Wer aus Minamata kommt, hat es schwer einen Job zu finden, weil viele Arbeitgeber glauben, die Vergiftung sei ansteckend. „In Hiroshima war das Ausmaß der Zerstörung klar, sobald die Bombe gefallen war“, sagt Takanori Goto, der Minamata–Opfer vor Gericht vertritt, aber hier kommen Tod und Lähmung langsam, das Leiden geht immer weiter.“ Bei Mindestens 50.000 Menschen, die in einem Umkreis von 35 Kilometern um die Bucht herum leben und sich von den Fischen dieses Gebietes ernähren, traten im Lauf der Zeit mehr oder weniger schwere Vergiftungserscheinungen auf. 1907 eröffnete die erste Chemiefabrik der Firma Chisso ihre Pforten in dem verschlafenen Dorf auf der südjapanischen Insel Kyushu. Die quecksilberhaltigen Abwässer, die bei der Produktion von Acetaldehyd, einer Plastikkomponente, anfielen, wurden durch einen offenen Kanal quer durch die Stadt bis zum Meer geleitet. Der Boom der Plastikindustrie nach dem zweiten Weltkrieg erhöhte auch die Menge der Abwässer und 1956 überschritt die Quecksilberbelastung der Bucht das 400fache des Zugelassenen. Mitte der Fünfziger Jahre machten sich dann auch die Auswirkungen der Giftwirtschaft bemerkbar: Fische und Vögel starben, Katzen brachen unter Krämpfen zusammen und im April wurde das erste menschliche Todesopfer offiziell registriert: ein sechsjähriges Mädchen. Binnen Monatsfrist starben weitere 50 Menschen. Und obschon die Auswirkungen von Quecksilber auf das zentrale Nervensystem in der Wissenschaft seit langem bekannt waren, lud Chisso ihre Giftabfälle noch über neun weitere Jahre in der Bucht ab. Erst 1973 entschied ein Gericht, daß die Firma „nachlässig“ gehandelt habe und sprach den Opfern Entschädigung zu, bis heute mußte der Konzern über 500 Mio. Dollar zahlen. Doch die Summe hilft den Patienten des „Bright Water Garden Center“ kaum. Hier liegen, in überdimensionierten Kinderbetten, die am schwersten geschädigten Opfer. Vor 30 Jahren wurden sie im Mutterleib von dem Gift geschädigt, heute als Erwachsene brauchen sie Windeln und müssen von anderen gefüttert werden. „Sie kann ihre Eltern erkennen“, sagt Direktor Isaoshi Mishima z.B. über eine 29jährige Frau. „Die anderen sind wie Matsch, ein geistiges Nichts.“ Mit den ruinierten Lebensperspektiven der Opfer hat sich auch die Haltung Chisso gegenüber grundlegend geändert. Die traditionelle Ergebenheit hat einer in Asien unüblichen Wut Platz gemacht, die zu einer Welle von Klagen gegen den Konzern führte. 2.500 Opfer haben bis heute Schadensersatz zugesprochen bekommen, 200.000 Dollar pro Todesfall und 120.000 Dollar für Invaliden, 7.000 Fälle sind noch vor Gericht anhängig. Um die Summen aufzubringen, hat Chisso seit 1973 jedes Jahr Verluste ausgewiesen, die verzweigten Aktivitäten des Konzern sind deutlich geschrumpft, auch die Produktion in Minamata sank um über 50 Prozent. Aber während Chisso immer noch einer der größten Konzerne Japans ist, hat die Stadt den Verlust von 4.000 Arbeitsplätzen nur schwer verschmerzt. Minamata lebt von öffentlichen Zuschüssen und schon werfen Unversehrte den Opfern vor, für die fehlenden Jobs verantwortlich zu sein. Ein hochrangiger Umweltexperte der Regierung erklärt ganz offen: „Bloß weil jemand ein taubes Gefühl im Finger hat, hat er noch keine Minamata–Krankheit.“ Einige Schulen haben begonnen, den Namen des Konzerns aus den Schulbüchern zu tilgen. Lehrfilme über die Katastrophe werden nicht mehr gezeigt. Der Konzern hat genug gezahlt, sagen die Nicht–Opfer, die Opfer ruinieren uns noch die restlichen Arbeitsplätze. Je mehr Chisso zahlt, sagen die Opfer, um so mehr Firmen werden die Kosten der Umweltverschmutzung kennenlernen.
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