: Der Berg ruft nicht mehr - er kommt
■ Naturschützer befürchten Bergrutsche und Überschwemmungskatastrophen auch in den deutschen Alpen / 45 Prozent der bayerischen Hänge „sehr labil“ / 90 Orte akut bedroht / Von Martin Herbst
„Tagelanger Regen ließ die Bergbäche über die Ufer treten. Die Ache schleppte tonnenweise Gestein durch die Ortschaft. Eine Mure aus dem Bachtal wälzte Menschen, Autos und Häuser nieder.“ Das alles, so der Berichterstatter, sei nur möglich geworden, „weil der schützende Bergwald fehlt“. Der Report aus dem „AlpentalX“ ist Fiktion, er stammt aus der Studie „Der Bergwald stirbt“ des Deutschen Alpenvereins (DAV) von 1985. In das Jahr 1994 hatten die Autoren die Horrorreportage verlegt, doch inzwische hat die Wirklichkeit von Sondrio und Bergamo sämtliche Prognosen eingeholt. AlpentalX ist überall, den Bergen droht die Katastrophe.
„Die Hälfte aller Ortschaften des Alpenraumes sind stark durch Muren (Schlammstrom, d. Red.) und Überschottung, Lawinenabgänge und Überschwemmungen gefährdet“, lautet das Fazit der DAV–Studie. Die Orte Garmisch– Partenkirchen, Mittenwald und Oberstdorf seien „besonders betroffen“. Rund 370 Kilometer Straßen könnten durch Berg–Katastrophen lahmgelegt werden. Nach neueren Schätzungen sind etwa 90 Siedlungen allein am Nordrand der Alpen durch Steinschlag, Rutschungen und Wasserstürze gefährdet: „Heute Sondrio - morgen Garmisch?“, fragt etwa der Münchner SPD–MdB Jürgen Vahlberg, Alpenschutz–Experte seiner Fraktion. „Vor uns die Sintflut“, orakelt das österreichische Nachrichtenmagazin Profil in seiner Titelgeschichte vom 10. August. Und: „Das Stubaital ist überall.“ Das beliebte Ski–Gebiet war im Juli von einer Überschwemmungskatastrophe heimgesucht worden (s. Kasten). Für die Alpenrepublik gibt es mittlerweile Gefährdungskarten, erarbeitet vom Landwirtschaftsministerium. Die Tiroler Bezirke Landeck, Lienz, Imst und der Salzburger Bezirk Zell am See wurden als „extrem gefährdet“ ausgewiesen. 200.000 Menschen leben in diesen Problemzonen. Von den 2.300 österreichischen Gemeinden liegen 1.700 im Einzugsbereich von Wildbächen und Lawinen, nur ein Drittel verfügt über genaue „Gefahrenzonenpläne“, die etwa den Verlauf von Muren vorausberechnen. Immerhin gibt es Katastrophenschutzpläne, die Berge werden zur Gefahrenquelle, ähnlich wie bei Chemie– und Atomkraftwerken. Die Pläne sollen „einen gewissen Grad an Organisation ermöglichen“, so der Katastrophenschutzreferent des Bezirkes Zell am See, Kurt Reiter. Aber: „Solchen Sachen läuft man ja immer hinterher.“ Erschwert wird die Si tuation dadurch, daß etwa ein Drittel der hochalpinen Bebauung da steht, wo sie eigentlich nicht stehen sollte: Im Einzugsbereich von Muren und Lawinen. In Bayern arbeiten Forstbeamte seit Jahren an „Hanglabilitäts– und Waldfunktionskarten“. 45 erfaßten Hänge, vor allem im Bereich des Forstamtes Garmisch, sind rot eingezeichnet, was „sehr labil“ bedeutet: „Da mit schwersten Schäden gerechnet werden muß, ist schutzwirksame Bestockung (d. h. Bewaldung) erforderlich“, so die Erläuterungen zur Karte. „Wir sind aufgeregt, vorsichtig und mißtrauisch“, beschreibt der Schlierseer Forstdirektor Kornprobst seine Befindlichkeit. „Wir betrachten die Situation als sehr ernst. Wenn die Schutzfunktion des Waldes weiter zurückgeht, sind Katastrophen unvermeidbar.“ In den Landratsämtern in Bayern, zuständig für den Katastrophenschutz, sieht man die Entwicklung weniger dramatisch. Das Szenario des Alpenvereins sei „maßlos übertrieben“, findet etwa der Garmischer Landrat Fischer (CSU). Katastrophenpläne gebe es nicht. Kollege Seidl vom Berchtesgadener Land reagiert ungehalten auf Fragen nach der Gefahr: „Es gibt keinen Anlaß, in Panik auszubrechen.“ Die Landräte stehen ganz auf der Linie von Landwirtschaftsminister Hans Eisenmann (CSU): Katastrophen wie im Veltlin seien in Bayern „gegenwärtig“ nicht zu befürchten. Der Bergwald zeige zwar zu 50 Prozent „deutliche Schäden“, so Eisenmann in einem Bericht an den bayerischen Landtag. Ein „flächiges Zusammenbrechen“ der Wälder sei aber nicht abzusehen. Das ist auch nicht nötig: „Gefahren entstehen nicht erst, wenn der Wald tot ist“, so der SPD–Alpenexperte Vahlberg. „Bereits mittlere Schädigungen führen zu Veränderungen.“ So wird in einem gesunden Wald bei Regenfällen rund ein Drittel des Wassers von der Oberfläche der Blätter und Nadeln aufgenommen. Hat die abgenommen, bildet sich analog auch das Wurzelvolumen zurück - die Boden– und Wasserhaltekraft des Waldes läßt nach, Niederschlagsspitzen können nicht mehr aufgefangen werden. 50 - solche Zahlen sagen im Grunde wenig aus. So bestehen die bayerischen Vorberge zum größten Teil aus sogenannten „Flysch–Böden“ (etymologische Herkunft unklar, d. Red.). Das sind übereinanderliegende Erd– und Tonschichten, die durch die tiefreichende Pfahlwurzel der Tanne gewissermaßen zusammengenagelt werden. Geschädigte Tannen bilden bereits im Frühstadium ihre Wurzeln zurück. 95 gehen schon jetzt in Hunderte von Millionen Mark, soweit sich das an den Gegenmaßnahmen ablesen läßt. Denn getan wird etwas. Zwischen 1975 und 1983 hat Bayern etwa 320 Mio. Mark für die sogenannte „Schutzwaldsanierung“ ausgegeben. Dazu kommen 42 Mio. Mark für Ursachen– und Waldschadensforschung, jährlich 20 Mio. Mark für die Pflege junger Bestände sowie 4,4 Mio. Mark für ein Düngungsversuchsprogramm. Die Gelder des Schutzwaldsanierungsprogramms fließen vor allem in Neuanpflanzungen und Wildbachverbauungen. Die Zahl der jährlich gepflanzten Laubbäume stieg seit 1984 auf 15 Millionen. Vorwiegend sind es Eichen, die auf Schnee und Windbruchflächen gesetzt werden. Insbesondere Nadelbäume werden in „Kampfgruppen“ gesetzt, eng beieinander stehend, um Gleitschnee und Rutschungen besser widerstehen zu können. Bayerische Junggärtner um den „Waldpapst“ und Biologen Karl Partsch setzen sogenannte „Pionierpflanzen“ ein, schnellwachsendes, robustes Buschwerk, das den Boden wenigstens notdürftig zusammenhalten soll. Im Schutz der Sträucher könnten auch vom Wildverbiß bedrohte Jungbäume besser aufwachsen. Die Befürchtung von Partsch: „Die staatlichen Programme kommen zu spät.“ Ein neuer Wald benötige Jahrzehnte, um seine Schutzfunktionen wieder übernehmen zu können. Der Wald wächst in eine ungewisse Zukunft: „Besonders Jungtannen sind Leckerbissen für Rehe und Hirsche. Forstdirektor Kornprobst aus Schliersee: „Wenn es nicht gelingt, den Verbiß zu stoppen, sind alle Verjüngungsmaßnahmen gescheitert.“ Ein neues Jagdgesetz soll den Abschuß des Wildes erleichtern. Einmal herangewachsen, werden die Bäume von nach wie vor hohen Schadstoffkonzentrationen bedroht. Stickoxide aus Automotoren werden zum Pflanzengift Ozon umgebaut. Im August, wenn sich die Blechlawinen über die Alpen wälzen, steigt zum Beispiel die Ozonkonzentration am Wankgipfel bei Garmisch auf das Doppelte des pflanzenschädlichen Ozonwertes und über die maximal zulässige Arbeitsplatzkonzentration (MAK). „Eigentlich“, so Helmut Klein, Biologe beim Bund Naturschutz, „dürfen Waldarbeiter am Rande des Waldes gar nicht mehr arbeiten...“
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