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Verlegenheit beseitigt

■ Nazi–Symbol, bemitleidenswert, Grund für Verstimmungen - die Presse über Heß

Berlin (taz) - Rudolf Heß, „ein alter und kranker Mann“, „ein hilfloser Greis ohne Fähigkeit zur Schuldeinsicht“ (Münchner Merkur), entlockt auch posthum den bundesdeutschen Kommentatoren noch so manche Träne. Saß er doch „nicht über 45 Jahre im Gefängnis, um für ein Verbrechen zu sühnen“, wie die Badische Zeitung weiß, „sondern weil eine harte Doktrin der Sowjetunion jeden Gnadenakt verhinderte“. Und, so die überraschende Folgerung: „Die unmenschliche Strafe bis zum letzten Atemzug war eher ein Hindernis für die Aufarbeitung von Vergangenheit als ein mahnender Hinweis auf die Verbrechen des Dritten Reiches.“ Die Hagener Westfalenpost hält dagegen: Heß „mußte in der Zelle sterben“, denn: „Der Mann hätte Gnade finden können, das System, für das er in Spandau eingesperrt war, nicht. (...) Es muß verhindert werden, daß sich Legenden um den Toten bilden, und das ist auch Aufgabe deutscher Politik.“ Schlußfolgerungen für die aktuelle Politik ziehen manche ausländischen Zeitungen. Der Schweizer Le Matin findet es „nicht taktklos“, bei Heß gleich an Gorbatschow zu denken: „Heß ist tot, Barbie (...) verurteilt - jetzt könnte man die Scheinwerfer auf den Totalitarismus von heute richten.“ Turins La Stampa sieht „eine Phase der qualvollen Geschichte Berlins beendet“, die Genfer Tageszeitung La Suisse meint: „Der Tod des Hitler–Stellvertreters dient sogar den Diplomaten zu einer Zeit, da man von deutsch–deutscher Wiederannäherung und - noch utopischer - vom Abriß der Berliner Mauer spricht: Denn Rudolf Heß war auf seine Art auch eine Mauer, bildete er doch ein Hindernis für den Abbau von Verstimmungen zwischen Bonn und Moskau.“ Die Londoner Times sieht nach Heß Tod auch bei den Alliierten eine „Erleichterung aus einer fortdauernden Verlegenheit“. Die polnische Zeitung Zycie Warszawy, bezeichnete die bis zum Tode dauernde Haft als ein Symbol dafür, daß die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands noch nicht vergessen ist. Ohne Leute wie Heß hätte es keine 50 Millionen Opfer des Zweiten Weltkrieges gegeben. Am Ende ragen aus dem Presseberg noch zwei recht originelle Beiträge heraus: Die Berner Zeitung sieht die „Generation der Nachgeborenen“ als „immun gegen faschistische Verwirrungen“ an: „Hitler gilt den Jungen als komische Figur.“ Für die Heilbronner Stimme ist der Bau eines Supermarktes auf dem Gelände des Spandauer Gefängnis „ein Symbol, und nicht das schlechteste, für das Leben in der Bundesrepublik 1987.“

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