: Bauern und Fischer gegen Raketenbasis
■ Im indischen Unionsstaat Orissa soll ein riesiges Testgelände gebaut werden / Auch aus der Bundesrepublik kommt Hilfe für Indiens Raketenproduktion / 70.000 Bauern und Fischern droht die Vertreibung aus dem fruchtbaren Landstrich / Ein Protestkomitee koordiniert Aktionen des Zivilen Ungehorsams
Von Max Lotus
Mehrere tausend Frauen, Männer und Jugendliche haben sich an einem heißen Sommertag vor dem Kreisamt von Baliapal, einer Kleinstadt an der Ostküste d Polizisten springen ab und stürzen sich mit langen Bambusknüppeln auf die Blockierer. Geschimpfe, Schreie, Prügel. Nach einer halben Stunde ist der Platz vor dem Behördenhaus leergeknüppelt. Verhaftete werden abgeführt, zahlreiche Verletzte müssen versorgt werden. Szenen wie diese sind im ostindischen Unionsstaat Orissa an der Tagesordnung. Seit über einem Jahr herrscht an der Küste 200 km südlich von Kalkutta Alarmstimmung. Für den Bau eines riesigen Raketentestgeländes sollen nämlich mindestens 70.000 Menschen aus ihren Dörfern vertrieben werden. Die Standortwahl fiel auf Orissa, weil es geeignete Wetterbedingungen bietet und hinreichend weit vom „Erzfeind“ Pakistan entfernt ist. „Dieses Gebiet ist der einzig geeignete Ort für ein Testgelände, das der nationalen Verteidigung dienen soll“, heißt es dazu in Flugblättern, die im vergangenen Dezember in der Nähe von Baliapal von der Regierung abgeworfen wurden. „Wer sich dagegen zur Wehr setzt, handelt illegal.“ Das aber sehen die betroffenen Bauern und Fischer naturgemäß ganz anders. Sie kämpfen um ihre Existenz. Oppositionsparteien, Landbesitzer, Gewerkschaften und soziale Aktionsgruppen haben sich im „Anti–Raketen–Protestkomitee“ zusammengeschlossen, das Zweigstellen in allen betroffenen Dörfern unterhält. Das Komitee organisiert Aktionen des Zivilen Ungehorsams wie Steuerstreiks, Blockaden oder Protestmärsche. Die Behörden versuchen, mit Knüppeleinsätzen und Verhaftungen die Situation unter Kontrolle zu bringen. Jagabandhu Ghosh, Mitarbeiter einer Sozialen Aktionsgruppe berichtet: „Polizisten haben unser Büro verwüstet. Sie haben Akten und sogar unser Motorrad beschlagnahmt. Man hat uns wiederholt geschlagen, auch ich hab einiges abgekriegt!“ Raketenbasis oder Atomtestgelände? Der Bau eines „Nationalen Raketentestgeländes“ im Regierungsbezirk Balasore im Norden des Staates Orissa wurde am 21. Mai letzten Jahres von der indischen Zentralregierung genehmigt. Die indische Weltraumbehörde aber auch die Luftwaffe wollen dort neue Raketen erproben. Sie erheben Anspruch auf 160 km2 fruchtbares, dichtbesiedeltes Küstenland. Kritiker des Projektes wie der Oppositionspolitiker und Militärexperte Biju Patnaik vermuten jedoch, das Testgelände solle auch der Entwicklung von Atomraketen dienen. Ganz aus der Luft gegriffen ist diese Behauptung nicht. Indien ist die führende Atommacht unter den Ländern der sogenannten Dritten Welt. Indische Techniker beherrschen praktisch den gesamten nuklearen Brennstoffkreislauf. Die staatliche Atomenergiekommission betreibt zwei Uranbergwerke, eine Brennelementefabrik, zwei Wiederaufbereitungsanlagen, drei kommerzielle Atomkraftwerke sowie sieben Forschungsreaktoren. Auch im Raumfahrtsektor kann sich Indien als Spitzenreiter unter den Entwicklungsländern betrachten. Bereits vor sieben Jahren gelang der Start der vierstufigen SLV–3–Rakete, die Indiens ersten selbstgebauten Satelliten im Weltall absetzte. Für die nächsten Jahre ist die Entwicklung einer 44 Meter hohen Rakete PSLV geplant, die eine Nutzlast von 1.000 kg in die Erdumlaufbahn schießen soll. Die weltweite Empörung über die Zündung eines indischen Atomsprengsatzes im Jahre 1974 ließ die Politiker jedoch vorsichtig werden. Die indische Regierung bestreitet heute, Atomwaffen zu besitzen oder zu entwickeln. Man hält sich nur die „Option einer nuklearen Bewaffnung“ offen. Im Klartext: Forschung und Ausbau der Infrastruktur werden weiter betrieben. Verteidigungminister Pant erklärte im März dieses Jahres vor dem indischen Parlament, die Regierung werde angesichts der pakistanischen Atombombenentwicklung ihre bisher geübte Zurückhaltung beim Bau der Bombe überdenken. Das größte technische Hindernis für eine indische Atomstreitmacht ist die Entwicklung eines geeigneteren Trägersystems. Fachleute halten die Umwandlung der Satellitenrakete SLV–3 in eine Mittelstreckenrakete aber für durchaus möglich. Der moderne Feststoffantrieb und das Trägheitslenksystem der SLV–3 seien auch für diesen Waffentyp geeignet. Um die senkrecht steigende Satellitenrakete zur Mittelstreckenrakete mit ballistischer Flugbahn umzurüsten, seien lediglich eine andere Software sowie der Einbau eines Hitzeschildes für den Wiedereintritt in die Erdatmosphäre nötig. Das in Ostindien geplante Raketentestgelände ist für die Aufgaben geeignet. Die „Deutsche Forschungs– und Versuchsanstalt für Luft– und Raumfahrt“, kurz DFVLR, hat in der Vergangenheit durch die Ausbildung indischer Wissenschaftler in seinen Institutionen sowie durch die Lieferung von Ausrüstungsgegenständen und Software der indischen Raketenindustrie auf die Sprünge geholfen. Hilfe aus der BRD Klaus Schichl, Ingenieur für Luft– und Raumfahrttechnik, der beim „Forum Naturwissenschaftler für Frieden und Abrüstung“ mitarbeitet, macht auf einen heiklen Punkt aufmerksam: „Es gab beispielsweise gemeinsame Untersuchungen von Wiedereintrittsproblemen, also Versuche zur Entwicklung eines Hitzeschildes. Diese Forschungen sind ein Hinweis auf ein militärisches Interesse, denn eine Satellitenrakete braucht keinen Hitzeschild. Der ist dagegen für eine ballistische Mittel– oder Langstreckenrakete absolut notwendig.“ Heimat oder Tod! Zum kommenden Oktober sollen in Orissa die ersten Dörfer geräumt werden. Im vergangenen April wurden bereits Boden–Luft– Raketen auf einem Armeegelände in Chandipur, nur zwölf Kilometer von der Distrikthauptstadt Balasore entfernt, getestet. Die von der Vertreibung Bedrohten sind entschlossen, ihre Häuser und ihr Land zu verteidigen. Junge Männer haben sich freiwillig für sogenannte „suicide–squads“ (Selbstmordkommandos) gemeldet, die sich als erste den Bulldozern und Gewehren der Polizei entgegenstellen wollen. „Wir haben keine Angst, unser Leben zu verlieren, aber wir werden niemals unsere Heimat aufgeben“, rufen Demonstranten in Balasore unbeirrt der Regierung entgegen. Die Gescholtene hat inzwischen versichert, den Umsiedlern für den Verlust ihres Besitzes zu entschädigen und ihnen bei der Wiederansiedlung zu helfen. Geld werden aber nur diejenigen Familien erhalten, deren Landbesitz in den Grundbüchern registriert ist. Die landlosen Pächter und Fischer, etwa die Hälfte der Bevölkerung, werden also wie bei vielen Konflikten dieser Art leer ausgehen. Die Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen zudem, daß ein großer Teil der Entschädigungsgelder in die Taschen korrupter Beamter verschwindet. Markondo Kanra, Fischer aus einem der bedrohten Dörfer: „Was hat die Regierung nicht schon alles versprochen! Wir haben gehört, daß man uns neuen Wohnraum in den Bergen zuweisen will, aber wie sollen wir dort Fische fangen? Wir sind Fischer, wir haben nie etwas anderes gelernt. Wir werden verhungern!“ Einige ziehen den Nutzen der Raketenbasis grundsätzlich in Zweifel. Durgapushad Jena etwa, der als Sozialarbeiter in bedrohten Dörfern tätig ist, meint: „Wenn hier Raketen abgeschossen werden, ist der Frieden gestört. Ich will schon Steuern zahlen, aber die Verwaltung soll das Geld sinnvoll verwenden, nämlich für die Entwicklung des Landes, für die Landwirtschaft, zum Bau von Industrie– und Bewässerungsanlagen, Schulen und Krankenhäusern.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen