Nationaler Protesttag im Baltikum

■ Demonstranten in Estland, Litauen und Lettland gedachten des Stalin–Hitler Paktes, der den Weg für die sowjetische Okkupation dieser Länder bereitete / Polizei griff bei den verbotenen Kundgebungen nicht ein

Von Erich Rathfelder

Berlin (taz) - Mit Schärfe reagierten gestern die sowjetischen Medien auf die Demonstrationen vom Sonntag in den baltischen Republiken Lettland, Litauen und Estland anläßlich des Jahrestags des Stalin–Hitler–Pakts vom 23. August 1939, durch den diese Staaten ihrer Unabhängigkeit beraubt wurden und an die Sowjetunion fielen. Unter der Überschrift „Nicht wieder rückwärts schreiten“ machte das Parteiblatt– Prawda „ideologische Feinde aus Übersee“ für die Kundgebungen in Riga, Talinn und Wilna verantwortlich. Diese „ideologischen Feinde“ wollten „den Prozeß der Demokratisierung und der Öffnung „in der UdSSR mißbrauchen“ und in der Bevölkerung „Zweifel an der Richtigkeit und Aufrichtigkeit der Partei, am Kurs der Perestroika und der Besserung im Lande“ schüren. „Inspiriert durch subversive westliche Rundfunkanstalten und eine Gruppe ehemaliger Häftlinge“, fügte die TASS hinzu, hätten sich in einem Park im Zentrum von Talinn Menschen zusammengefunden, um „einige Partien des Vertrages auf demagogische, bourgeoise und nationalistische Weise zu interpretieren“. Sie wollten „Schande über die revolutionäre Vergangenheit“ der baltischen Völker und die „brüderliche sowjetische Gemeinschaft“ bringen. Trotz des Verbots der Demonstrationen berichtete TASS über die Ereignisse in den Hauptstädten der drei baltischen Staaten. In Wilna, der Hauptstadt Litauens, sollen sich laut TASS außer 30 „Extremisten“ auch mehrere hundert Schaulustige beteiligt und am Denkmal des polnischen Dichters Adam Mickiewicz religiöse Lieder gesungen haben. Ausdrücklich erwähnte die sowjetische Nachrichtenagentur, daß die Demonstration in Wilna gegen die Errichtung der Sowjetmacht im Jahre 1940 gerichtet war. Nach Angaben baltischer Emigrantenorganisationen in Stockholm legten fast 10.000 Menschen Blumen am Fuße der „Freiheitsstatue“ in der lettischen Hauptstadt Riga nieder. Am Nachmittag hätten nach einem Augenzeugenbericht noch 5.000 Leute vergeblich versucht, den von der Polizei abgeriegelten Platz zu erreichen, auf dem das Denkmal steht. 13 lettische Aktivisten seien von der Polizei bis Sonntag abend unter Hausarrest gestellt worden. Aus Wilna berichtete ein westlicher Besucher, rund 500 Demonstranten hätten sich vor der katholischen Anna– Kirche versammelt. Die Polizei hätte einen Kordon um das Gotteshaus gebildet, die Demonstranten wären aber unbehelligt geblieben. Die Nervosität der sowjetischen Führung vor diesem für die baltischen Länder bedeutsamen historischen Datum schlug sich in einer Flut von Erklärungen über die historischen Umstände der Eingliederung von Litauen, Lettland und Estland in die UdSSR nieder. Das sowjetische Fernsehen widmete am Samstag diesem Thema eine Stunde. Westliche Medien und baltische Emigranten wurden beschuldigt, Unruhe in den baltischen Republiken schüren zu wollen, indem die historischen Wahrheiten über den Anschluß dieser Länder an die Sowjetunion verfälscht dargestellt würden. Nach sowjetischer Lesart haben im Sommer 1940 die baltischen Länder aus Angst vor einer drohenden Besetzung durch die deutsche Armee von sich aus die Aufnahme in die Sowjetunion angestrebt. Daß damit die erklärte Absicht der Kreml–Führung, die dunklen Stellen der sowjetischen Geschichte ans Licht zu bringen, nicht entsprochen wird, ruft den Protest hervor. Nach Lesart der baltischen Oppositionellen hat der Stalin–Hitler–Pakt, der am 23. August 1939 von den damaligen Außenministern Rippentrop und Molotow unterzeichnet wurde, die Interessensphären der beiden Mächte in Osteuropa abgesteckt und damit den Weg für die Annektion der baltischen Länder vorbereitet, die dann 1940 tatsächlich vollzogen wurde. Die deutschsprachige Bevölkerung mußte damals übrigens mit Billigung Hitlers die baltischen Länder verlassen. In Estland erhielt die Sowjetunnion am 28. September 1939 das Recht, Truppen zu stationieren. Als die sowjetische Regierung am 16. Juni 1940 der estnischen Regierung ein Ultimatum stellte, in dem die Einstellung jeglicher antisowjetischer Tätigkeit gefordert wurde, war es um die 1917 durch die Bolschewiki ermöglichte Unabhängigkeit geschehen. Zwei Monate später wurde die Estni sche SSR proklamiert, nachdem sowjetische Truppen das Land besetzt hatten. 22.000 Esten wurden damals deportiert oder liquidiert, eine Erfahrung, die viele Esten auf den Einmarsch der deutschen Armee hoffen ließ. Die erwünschte Eigenstaatlichkeit wurde unter den Nazis jedoch nicht gewährt, so daß sich Widerstand gegen die deutsche Besatzung in den Jahren 1941 bis 44 regte. Nach der Wiedereroberung durch die Rote Armee mußten über 100.000 Esten für die ihnen vorgeworfene Kollaboration mit Deportation bezahlen. Im katholischen Litauen erhielt die Sowjetunion schon 1939 Stützpunkte. Die Rote Armee besetzte das Land am 15.Juni 1940. Kurz darauf stellte eine neue Regierung den Antrag auf Aufnahme in die UdSSR. Ähnlich wie in Estland und Lettland wurden nach der Rückeroberung des Landes 250.000 Menschen deportiert, nachdem schon die Deutschen während ihrer Besatzungszeit die dort ansässigen Juden verfolgt und ermordet hatten. Auch Lettland wurde 1940 unter ähnlichen Bedingungen in die Sowjetunion aufgenommen und erfuhr während der deutschen Besatzung und nach der Wiedereroberung durch die Rote Armee nach 1945 eine Zeit wechselseitiger Repression. Da Ende der vierziger und fünfziger Jahre Tausende von Russen in die baltischen Republiken einwanderten, kam es immer wieder zu Klagen über die „Russifizierung“ in den drei baltischen Republiken. Doch in den letzten Jahren konnte sich das kulturelle und auch politische Leben wieder freier entfalten. Am 14. Juni 1987 demonstrierten beispielsweisen mehr als tausend Letten zum Gedenken an die 14.000 Landsleute, die 1941 von den sowjetischen Truppen deportiert worden waren. Im Anschluß an die Kundgebung hatte die Polizei zwar den Führer der örtlichen Helsinki– Gruppe, Linards Grantins, festgenommen, die Demonstration jedoch nicht aufgelöst.