: Posthume Gerechtigkeit in der UdSSR
■ Oberstes Gericht der UdSSR rehabilitiert Kritiker der Zwangskollektivierung auf dem Lande / „Partei der Werktätigen Bauernschaft“ war Erfindung der Geheimpolizei / 1.000 ihrer angeblichen Mitglieder von 1930 bis 1932 verhaftet / Stalinismus–Debatte weitet sich aus
Von Walter Süß
Berlin (taz) - „Posthume Gerechtigkeit“ heißt der Artikel einer Ausgabe der Moskauer Nachrichten von Mitte August, einer der reformfreudigsten sowjetischen Wochenzeitungen. Berichtet wird über die Rehabilitierung von 15 sowjetischen Ökonomen und Agrarwissenschaftlern, die 1930 verhaftet und in Geheimprozessen Anfang bis Mitte der 30er Jahre verurteilt worden waren. Die meisten von ihnen starben im Lager. Es sind bekannte Namen darunter: Lew B. Kafengauz, einer der bedeutendsten sowjetischen Statistiker der 20er Jahre, Nikolai D. Kondratiew, der Entdecker der „langen Wellen der Konjunktur“ und Alexander W. Tschajanow, der führende sowjetische Agrarwirtschaftler der Zeit vor Stalin. Ihnen und den anderen vom Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR am 16. Juli 1987 Rehabilitierten war vorgeworfen worden, Mitglieder einer „Partei der Werktätigen Bauernschaft“ gewesen zu sein. Kandratiew sei, so stand 1930 in der sowjetischen Presse zu lesen, der Führer dieser Partei, ihr Programm habe Tschajanow geschrieben. Dieses „Programm“ war der 1920 von Taschajanow unter Pseudonym veröffentlichter utopischer Roman „Reise meines Bruders Alexej ins Land der bäuerlichen Utopie“, dessen Spielzeit der Autor ins Jahr 1984 verlegt hatte. Die „Partei“ verfügte angeblich im ganzen Land über eine Untergrundorganisation mit 10.000 Mitgliedern. Wie die Moskauer Nachrichten schreiben, waren über 1.000 Menschen in den Jahren 1930 bis 1932 verhaftet worden, weil sie dieser Partei angehört haben sollen. Dabei habe es sich um eine Fiktion gehandelt: „... weder im Zentralen noch in den regionalen Staatsarchiven existieren irgendwelche Informationen über die Existenz der Partei der Werktätigen Bauernschaft.“ D.h., die Verhafteten und Verurteilten wurden Opfer eines riesigen Schwindelmanövers, das - so die Moskauer Nachrichten - „Stalin gegen die gebrauchte, die möglicherweise seine Politik der Zwangskollektivierung der Bauernschaft und der überstürzten Ausweitung der Industrie, d. Red. und ihre Konsequenzen, die schon im Frühjahr 1930 deutlich sichtbar geworden sind, kritisiert hätten.“ Die Moskauer Nachrichten erinnern an zwei andere Kampagnen, die Schauprozesse gegen die „Industriepartei“ Ende 1930 und gegen die „Menschewistische Konterrevolutionäre Organisation“ im März 1931, deren Opfer - meist prominente sozialdemokratische Ökonomen - noch immer nicht rehabilitiert sind. Die neue Stalinismus–Debatte überschreitet mit diesem Artikel die bisher von oben gesetzten Grenzen: „In unserem Bewußtsein sind Massenrepressionen mit den Jahren 1937/1938 verbunden, im wirklichen Leben aber war das nur die Zeit ihres Höhepunkts.“ Mit dieser zeitlichen Ausweitung der Periode, die jetzt kritisch aufgearbeitet werden soll, werden zugleich auch die Wurzeln des stalinistischen Herrschaftssystems der Kritik zugänglich und alternative Entwicklungswege sichtbar gemacht. Das hat bereits erheblichen Widerstand ausgelöst. Erst kürzlich stand in der Prawda (und das Neue Deutschland der SED hat das nachgedruckt), man könne doch wegen der „Verbrechen eines (!) Mannes“ nicht die ganze glorreiche Aufbauperiode schlecht machen. Der Autor der Moskauer Nachrichten hält von solchen Lebenslügen des Systems wenig. Vielmehr bezeuge die Rehabilitierungsentscheidung, „daß der Umbau unseres soziopolitischen Lebens auf der Basis von Demokratisierung und Transparenz (Glasnost) von universeller und irreversibler Natur ist und sich nicht nur auf die Gegenwart beschränkt. Er hat begonnen, die Gerechtigkeit in der Vergangenheit wiederherzustellen und garantiert so auch seine Standfestigkeit für die Zukunft.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen