: Wiedergefundener Freund
■ Louis Malle über seinen Film „Au revoir, les enfants“
Der Winter 1943–44 war einer der härtesten Winter meiner Kindheit. Diesen Januar 1944 werde ich nie vergesen. Vielleicht hat er auch meine Berufung zum Cineasten beeinflußt. Ich war elf Jahre alt damals, und meine Eltern hatten mich in ein katholisches Internat gesteckt. Vom Krieg und von der deutschen Besetzung hörten wir nur ein leises Echo. Ich erinnere mich: wir hatten - um uns das Leben weniger eintönig zu machen - zusammen mit den Angestellten eine Art geheimen Schwarzmarkt organisiert. Wir tauschten die Lebensmittelpakete, die uns unsere Eltern schickten, gegen Zigaretten. Eines Tages bemerkte ein Vorsteher die Sache und entließ Joseph, einen der jungen Angestellten. Joseph rächte sich an uns und denunzierte drei Schüler meines Jahrgangs bei der Polizei. Tatsächlich kam eines Morgens die Wehrmacht und brachte die Drei weg. Wir hörten nie wieder von ihnen. Nach dem Krieg hieß es, sie seien in einem Konzentrationslager umgekommen. Sie waren zurückhaltender als die anderen, doch bis zu diesem Morgen wäre niemandem eingefallen, daß sie Juden sein könnten. Einer von ihnen saß auf der Schulbank neben mir. Anfangs hatte mich seine Verschlossenheit verlegen gemacht, aber langsam hatte ich gelernt, ihn zu verstehen, und wir waren Freunde geworden. Das grausame Verschwinden dieser Drei - schuldig nur weil sie „anders“ waren - war für einige von uns ein Trauma. Wir waren plötzlich mit dem Absurden, mit Ungerechtigkeit und Gewalt konfrontiert. Es war die Entdeckung des Schrecklichen. Von diesem Augenblick an hatte ich der Kindheit den Rücken zugewandt und begann die Welt mit anderen Augen zu sehen. Wenn ich ein normaler Filmemacher wäre, hätte ich über diese Episode meiner Kindheit meinen ersten Film gedreht; doch damals war ich noch nicht bereit dazu. Vor zwei Jahren ist mir die Geschichte der drei jüdischen Jungen wieder eingefallen. Es gibt einen Punkt im Leben, an dem das Gedächtnis bestimmte Erinnerungen wieder ausgräbt. Es ist nicht leicht gewesen, die Produzenten zu überzeugen. Sie wiederholten immer wieder, Juden und Resistance interessierten niemanden mehr. Über den französischen Widerstand sind zahllose Lügen gesagt worden. Ein viertel Jahrhundert haben wir uns mit den versüßlichten Versionen der Gaullisten und Kommunisten zufriedengegeben. In Wirklichkeit war das nicht so rosig: Hinter den heldenhaften Partisanen stand ein Heer von Denunzianten und Kollaborateuren. Hoffen wir - ich habe da meine Zweifel -, daß diese Epoche ein für alle mal meine Mitbürger davon überzeugt hat, daß man der Realität ins Gesicht sehen muß. „Au revoir, les enfants“ ist jedoch kein Pamphlet über die dunklen Jahre der Besatzung. Der Film erzählt die Geschichte einer Freundschaft zwischen zwei elfjährigen Jungen - der eine katholisch, der andere jüdisch - inmitten einem Klima der Konfusion und des Wahnsinns der Kriegsjahre. Diese zwei Jungen - Quentin, ein bißchen mein alter ego, und Bonnet, der „andere“ - beobachten sich lange Zeit ganz leise. Da „Au revoir, les enfants“ ein Film aus der Zeit anonymer Denunziation ist, spielen Blick und Beobachtung die bestimmenden Rollen. Ich habe diesen Film in großer Eile gedreht, weil ich Angst hatte, den Schwung zu verlieren, diese Spannung, die dieselbe war wie bei meinem ersten Film. Ich hatte wirklich den Eindruck, zum zweiten Mal Anfänger zu sein. Als ich die erste fertige Kopie sah, war mir, als hätte ich einen Frosch im Hals. Die größten Schwierigkeiten für mich waren: die geeigneten Darsteller zu finden und die Suche nach dem einen Grundton. Die Geschichte beginnt leise als ruhige Chronik des Internatslebens und wird zu einem lauten Drama, einer Tragödie. Irgendwann einmal dachte ich daran, den Film „Der Neue“ zu betiteln. Aber der jetzige Titel schien mir geeigneter, das Gefühl - den zentralen Aspekt in diesem Film - zu vermitteln. Der Film endet mit dem Abschied der beiden Jungen, die sich einen letzten Blick zuwerfen. Quentin sagt endgültig der Kindheit, ihrer Unschuld und Illusionen adieu. Ein Motiv, das sich in meinen letzten Filmen oft findet: die Sichtweise eines Jungen, der die Welt der Erwachsenen beobachtet, der erschüttert ist von ihrer Heuchelei und Korruption und verzweifelt versucht, nicht dazu zu gehören. Auch wenn das nicht so offensichtlich ist, bin ich meinem Maitre Bresson doch näher, als man glaubt: Ich bin Karmeliterschüler, und das Problem des Bösen, der Definition einer Moral, steht im Mittelpunkt meiner Überlegungen.
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