Vobo 87: Alles nur „Schall und Rauch“?

■ TAZ meets Volkszählung / Interview mit dem Präsidenten des Statistischen Bundesamtes, Egon Hölder, über den Verlauf der Volkszählung / Stichwort Fehlerquote: „Statistiker haben viele Möglichkeiten, gewisse Ausgleiche herbeizuführen“ / Stichwort Vobo–Aktionen: „Eine Art Umweltbelastung, die schädlich ist.“

taz: Herr Hölder, als Präsident des Statistischen Bundesamtes haben Sie auch als Person für die Volkszählung eingestanden. Hätten Sie sich eigentlich in den letzten Monaten gern einen anderen Beruf gewünscht? Hölder: Eigentlich nicht. Man ist immer im Leben auf irgendeine Position gestellt, und ich hatte den Eindruck, was ich da tue, muß sein, und das geht über persönliche Wünsche hinaus. Aber wie fühlt man sich als Chef eines Unternehmens, das gerade über eine Milliarde Steuergelder in den Sand gesetzt hat? Also, ich würde weder sagen, daß eine Milliarde Aufwand da waren, noch, daß irgendetwas in den Sand gesetzt wurde. Ganz im Gegenteil. In der Zwischenzeit ist ja das Gros der Arbeit draußen gelaufen. Und auch die Bürger haben durch die Konfrontation mit dem Fragebogen gesehen, daß diese ganzen drohenden Gemälde, die da aufgebaut waren, eigentlich Schall und Rauch waren. Sie stimmen also Herrn Zimmermann zu, daß alles „erfolgreich und planmäßig“ gelaufen ist? Was heißt planmäßig. Natürlich müssen Sie bei jeder Zählung dieser Größenordnung damit rechnen, daß nicht alles klappt. Die ganze Zählung ist föderativ organisiert. Und das bedeutet, daß gewisse Ungleichmäßigkeiten auch gewollt sind. Das sind also „Ungleichmäßigkeiten“, wenn die Volkszählung vom ersten Tag an von Pannen und Rechtsbrüchen begleitet war? Es fing an mit liegengelassenen Zählerunterlagen, mit zu Unrecht ergangenen Zählerbenennungen. Weiter ging es dann damit, daß Zähler zum Beispiel bei Arbeitgebern sich die Daten geholt haben, und der neueste Clou sind ausradierte und wiederverwendete Fragebögen. Zunächst: Vieles von dem, was Sie mir jetzt vorhalten, ist ja gar nicht nachgewiesen. Daß aber bei einer Größenordnung von über einer halben Million Zählern gelegentlich etwas vorkommen kann, ist für einen Statistiker nicht verwunderlich. Je größer die Zahl, desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß irgendwo etwas schiefgeht. Hauptsache das Gesamtbild stimmt Das kommt mir so vor, als wenn ich mich an das Steuer eines Jumbojets setze, und hinterher sage: Nun ist es abgestürzt das Flugzeug, aber es war ja auch ganz schön groß. Heißt das, Sie haben mit all diesen Pannen und Rechtsschwierigkeiten von vornherein gerechnet? Was heißt mit all diesen Rechtsschwierigkeiten. Wenn 500.000 Zähler gebraucht werden und Sie sich, Frau Gaserow, mit einigen Gesinnungsfreunden aufmachen und versuchen, Zähler zu veranlassen, sich rechtswidrig zu verhalten, und daß das dann in einigen Fällen zu Schwierigkeiten führt, ist doch klar. Außerdem versuchen Sie, bei einem großen Gemälde irgendwo einen falschen Pinselstrich zu entdecken, aber für uns ist es von der statistischen Aufgabenstellung her nur wichtig, daß das Gesamtbild richtig ist. Aber ist es denn richtig? Ich lese Ihnen jetzt einmal Presseberichte aus einzelnen Lokalzeitungen vor, also nicht von mir und meinen „Gesinnungsgenossen“. Ich zitiere: Lemgo 50 Bad Säckingen 50 den per Post zurückgesandten Bögen, Radolfzell 50 90, Frankfurt 30 Jaja, natürlich! Für uns ist der große Anteil des Postrücklaufs - das sag ich ganz offen - nicht so sehr erwünscht, weil er bei den Erhebungsstellen mehr Arbeit verursacht. Daß dabei Ausfüllungsfehler entstehen, ist nichts Neues, das war auch bei früheren Zählungen so. Das sind viele Fehler, die das Statistikergebnis überhaupt nicht beeinflussen oder korrigiert werden können. Wie viele Menschen wurden mit dem Zählungsbogen konfrontiert, die sich sonst mit Formularen nicht viel beschäftigen. Da muß natürlich ein Problem entstehen. Aber Herr Hölder, eine Fehlerquote von drei Prozent wurde vor einem Jahr noch von führenden Mitarbeitern Ihres Hauses als problematische Größe angesehen. Jetzt reden wir von einer Fehlerquote, die bei 40, 50 oder 80 Pro zent liegt. Das muß Ihnen doch zu denken geben. Warum soll mir das zu denken geben? Es gibt mir nur zu denken, daß die einen sechs oder sieben Prozent sagen und die anderen 80 Schauen Sie, da wird irgendein Erhebungsstellenleiter angegangen um eine Auskunft, noch ist nicht standardisiert und da nützen Sie natürlich die Möglichkeit, die Ihnen scheinbar günstig ist. Wie erklären Sie sich denn, daß die Fehlerquote garade in den Universitäts– und Großstädten so hoch ist? Das ergibt sich zunächst einmal aus der Situation der Großstädte selbst. Sie können ja mal überlegen, wo Ihre Zeitung gelesen wird. Natürlich sind Leute, die sich der Einsicht verschließen, daß eine Gemeinschaft auch zahlenmäßige Gegebenheiten hat, in der Großstadt leichter anzutreffen. „Steuernde Eingriffe“ Es ist ein offenes Geheimnis: Der Zeitablauf der Volkszählung ist aus den Fugen geraten. Ja? Das bestreiten Sie? Schauen Sie, für uns ist der generelle Zeitablauf von Bedeutung. Daß es bei einzelnen Erhebungsstellen zu unvorhersehbaren Pro blemen gekommen ist, ist ganz klar. Daß es auf das Ganze gesehen immer mal eines steuernden Eingriffes bedarf, ist auch klar. Wieviel teurer wird die Volkszählung dadurch? Ich bin kein Prophet. Das kostet was, das ist klar. Aber ich kann das nicht beziffern. Selbst wenn es teurer wird, was nicht auszuzuschließen ist, wäre dies allemal besser, als im Dunkeln zu tappen. Wenn sich nach der Auswertung der Volkszählung herausstellt, daß die statistisch festgestellte Bevölkerungszahl plötzlich sehr stark von der bisherigen Einwohnerzahl abweicht. Welche Zahlen glauben Sie dann? Dann ist die Volkszählung 87 Ausgangslage. Wir haben überall Differenzen zu den Einwohnerregistern festgestellt. Wenn wir wüßten, es gibt keine Differenz, dann hätten wir gar keine Zählung gebraucht. Soll ich Ihnen erzählen, wie diese Differenzen zustande kommen? Ich kenne in Berlin zum Beispiel mehrere Erika Mustermanns, die jetzt schon Erinnerungsschreiben von der Erhebungsstelle bekommen haben. Tatsächlich existieren diese Personen aber gar nicht. Ach wissen Sie, jeder hat irgendwie so etwas ... In einem anderen Haushalt hat der Zähler sämtliche männlichen Vornamen auf dem Klingelschild zu eigenständigen Personen erklärt, dort gibt es jetzt also zusätzlich zu den dort wohnenden Personen einen Herrn Günther, einen Herrn Martin und einen Herrn Thomas. Die Bevölkerungszahl dieses Haushaltes hat sich damit um 100 Prozent erhöht. Wie gehen Sie denn damit um. Also ich gehe damit gar nicht um. Das ist Aufgabe des Landesamtes und der Erhebungsstelle. Das berichtigt sich im Lauf der Zeit, denn die Kollegen in den Landesämtern und den Erhebungsstellen sind auch nicht auf den Kopf gefallen. Und was ist jetzt mit Herrn Thomas und Frau Mustermann? Ja, ja, das sind die Schilder, die auf Ihrem Vorschlag hin zusätzlich angeschraubt wurden. Das sind Ausnahmen. Woher wissen Sie das? Woher ich das weiß? Schauen Sie, man kann Sachen fragen, die man fast nicht beantworten kann, weil sie irreal sind. Es war in der Tat so, daß man manches Mal Namensschilder vorfand, die deutbar waren, weil Namen zusätzlich angeschraubt wurden. Da hat der Zähler dann doch nur in seiner Liste aufgeschrieben: Die und die Leute gibt es dort. Deshalb sind die doch noch nicht gezählt. .. alles rein statistisch Und wenn diese Personen den Fragebogen ausfüllen? Dann wird man sehen, entweder wird man nun diese Personen bekommen oder nicht bekommen, und die werden sich u.U. strafbar machen. Gab es eigentlich überhaupt irgendeinen Punkt, an dem Sie das Unternehmen Volkszählung für gescheitert erklärt hätten? Ach wissen Sie, Sie sehen nur in großen Zahlen. Das kann man eben gar nie sagen. Wenn sich das Papier des Fragebogens auflöst, ehe er erfaßt wird, wäre natürlich kein Ergebnis da. Sie müssen doch als Statistiker mit bestimmten Zahlen und Fehlerquoten operieren. Wenn in einem Bereich alles verkehrt wäre, selbst alles unterginge, wären die ganzen Teilzwecke für Tausende von Gemeinden noch erfüllt. Statistiker haben viele Möglichkeiten, gewisse Ausgleiche herbeizuführen. Dann ist es eben nicht ganz so exakt, als wenn man es im Original hätte. Das heißt, egal, wie groß die Zahl der Verweigerer gewesen wäre, in Ihren Augen hätte es keinen Punkt des Scheiterns geben können. Frau Gaserow, das habe ich immer in aller Öffentlichkeit erklärt! Natürlich gehe ich davon aus, daß die Volkszählung nur dann ganz 100 prozentig gut ist, wenn alle Leute mitmachen. Und wenn 50 nicht ausgefüllt hätten? Es käme auch dann darauf an, wo diese 50 nun gar nichts eingegangen wäre, in den übrigen aber die normale Quote, wärs doch für das übrige Bundesgebiet ganz ausgezeichnet. Herr Hölder, Sie haben immer betont, die Volkszählung sei eine rein statistische Maßnahme. Jetzt hat es aber im Zuge dieser Maßnahme die größte Hausdurchsuchungswelle seit Jahren gegeben, es gab Postbeschlagnahmungen, ungezählte Verbote von Flugblättern und Informationsveranstaltungen. Es gibt Bußgeld und Strafverfahren ... Ja und? Das ist eine rein statistische Maßnahme. Mit dem politischen Umfeld haben Sie nichts zu tun? Dieses Umfeld haben Sie geschaffen! Auch die Steuer ist zunächst eine rein finanzielle Maßnahme. Wenn jemand Steuern hinterzieht, macht er sich natürlich in einem Rechtsstaat eines Gesetzesverstoßes schuldig. Und wenn jemand aus Bosheit, aus gemein schaftsschädlicher, aus zukunftsschädlicher Absicht heraus sich dieser Verpflichtung entzieht und sogar noch dazu aufruft, dies zu tun, dann reagiert natürlich die staatliche Gemeinschaft nach den verfassungsrechtlichen und rechtsstaatlichen Grundsätzen. Was wollen Sie da mehr? Vobo: „Darüber bin ich nicht glücklich“ Sie haben mit der Volkszählung eine der größten und breitesten politischen Bewegungen der letzten Zeit in Gang gesetzt. Ist das für Sie Bosheit gewesen, was da passierte? Was ist das für Sie gewesen, Frau Gaserow? Ausdruck eines berechtigten Protestes und einer politischen Überzeugung. Aber schauen Sie, ist die Volkszählung dazu eigentlich das richtige Objekt? Darüber haben Sie nicht zu urteilen. Es ist passiert, es ist politische Realität. Ja, ja, in kleinem Maße. Das ist es, was ich Ihnen in diesem Bereich vorwerfe: Eine Einrichtung wie die amtliche Statistik, die nicht für politische Richtungen, sondern für eine Gemeinschaftsaufgabe steht, in dieser Weise zu stören, ist doch fast vergleichbar mit der Vernichtung von Nahrungsmitteln oder von Wasser. Das ist auch eine Art von Umweltbelastung, die schädlich ist! Sind Sie denn glücklich über die Maßnahmen, die im Zuge des Widerstands gegen die Volkszählung von Polizei und Justiz getroffen wurden? Was soll ich nun dazu sagen. Der Gesetzgeber hat das Verfahren geordnet. Soll man nun glücklich darüber sein, daß es Leute gibt, die sich anders verhalten, als es eine Gemeinschaft erwartet? Darüber bin ich natürlich nicht glücklich. Ich bedaure, daß diese Maßnahmen überhaupt notwendig waren. Herr Hölder, Sie haben vor der Zählung immer gesagt, wir setzen auf Freiwilligkeit. Jetzt setzen die Erhebungsstellen mehr und mehr den Leuten mit Zwangsgeldandrohungen von bis zu 1.000 Mark die Pistole auf die Brust. Ist es das, was Sie wollen? Frau Gaserow, was denn sonst? Der Gesetzgeber hat diese Mitwirkungspflicht allen auferlegt. Was ist das eigentlich für eine Gesellschaft, die dann hinnimmt, das einige tun, was sie erwartet und andere nicht? Aber was ist das für eine Gesellschaft, die jemanden mit finanziellen Druck zwingt, gegen seine Überzeugung zu handeln? Das gibt es doch häufiger. Sie können doch auch die Überzeugung haben. Sie wollen keine Steuern bezahlen, Sie wollen bei Rot über die Ampel gehen, oder Ihre Nebenbuhlerin mit dem Auto ... Sehen Sie da wirklich keinen Unterschied, Herr Hölder? Eigentlich nicht. Den Unterschied, den Sie sehen, gibt es nämlich genaugenommen nicht. Bogen ausfüllen und Frieden schließen Warum können Sie jetzt nicht Frieden schließen. Es ist doch jetzt schon so, daß einzelne Gemeinden auf Buß– und Zwangsgelder völlig verzichten und die Bögen anhand der Meldedaten ausfüllen, andere dagegen hohe Zwangsgelder verhängen. Die Erhebungsstellen haben einen Anwendungsspielraum, der nach den örtlichen Bedürfnissen ausgefüllt werden muß. Ich kann den Ländern nicht vorschreiben, macht das so oder so. Was würden Sie sich denn wünschen, wie verfahren wird? Ich würde mir wünschen - und da komme ich auf das Wort Frieden zurück, das mir sehr wesentlich erscheint - daß jetzt diejenigen, die den Bogen nicht abgegeben haben, ihn ausfüllen und die Verfahren dadurch überflüssig machen. Man kann nicht nur von einer Seite Frieden schließen wollen. Zum Frieden gehören immer zwei. Aber so werden Sie nie zu einem Frieden kommen, wenn Sie jemanden die Pistole auf die Brust setzen und sagen: gib auf! Wir haben ein ordentliches Rechtsverfahren, da wird nicht gekämpft, sondern geregelt. Da ist doch keine Überzeugung dahinter. Wer eine Überzeugung hat und sich dabei nur auf die Statistik bezieht, der kann keine klare Einsicht mehr haben! Oder er hat noch ganz andere Probleme, dann ist es ja nicht erstaunlich, daß man da reagiert. Hat es eigentlich ein Argument ihrer Gegner gegeben, das Sie in den letzten Monaten überzeugt hat? Eigentlich nicht, das muß ich schon bekennen. Das Gespräch führte Vera Gaserow