Gorbatschow macht müde Marxisten munter

■ Über den „Umbruch in der Sowjetunion“ diskutierten Marxisten der BRD mit hochkrätigen Gästen aus der UdSSR / Erstmals seit langem war die bundesdeutsche Linke wieder an einem „Tisch“ vereint / Keine Alternative zur Reform der UdSSR–Gesellschaft

Aus Frankfurt E. v. Hase Mihalik

Es war schon ein besonderes Ereignis, als sich Hunderte von Interessierten im Frankfurter Haus Gallus einfanden und über den Umbruch in der Sowjetunion diskutierten. Denn erstmals seit langen Jahren gelang es den Veranstaltern, dem DKP–nahen „Institut für marxistische Studien“ und der Zeitschrift Sozialismus, fast das gesamte marxistische Spektrum der Bundesrepublik in einer Veranstaltung zu vereinen. Über die wirtschaftliche Umgestaltung und die Demokratisierung referierten die sowjetischen Gäste, der Gorbatschow–Berater für Wirtschaftsfragen, Prof. Abel Aganbegjan, der Direktor des Instituts für Internationale Arbeiterbewegung, Prof. Timowjew und die Geisteswissenschaftler Alexander Beltschuk und Alexander Galkin. Pfiff erhielt die Diskussion durch die Koreferenten aus der Bundesrepublik, die wie die Professoren und unabhängigen Marxisten Conert (Bremen) und Brakemeyer (Frankfurt) die Entwicklung in der Sowjetunion kritisch unter die Lupe nahmen. Selbst das vor allem von DKP– Mitgliedern und Sympathisanten durchsetzte Publikum begann bald, kritische Fragen zu stellen. So bekam sogar der DKP Vorstand sein Fett ab. Der Schriftsteller Erasmus Schäfer stellte gegenüber Willy Gerns vom DKP–Parteivorstand in Frage, daß die DKP die neuesten Entwicklungen in der UdSSR „als natürliche Entwicklungen im Sozialismus, auf die man eigentlich die ganze Zeit gewartet hatte“, interpretiere. Auf die Antwort wartete der Frager vergebens. Ebenso erging es Milan Horaczek, dem einzigen Vertreter der Neuen Linken bei der Diskussion, als er eine ähnliche Veranstaltung mit den Prager Reformern vorschlug. Abel Aganbegjan kritisierte die administrativen Methoden der Leitung in den Betrieben der Sowjetunion und forderte die Demokratisierung in den Betrieben und in der Gesellschaft, um die Stagna tion zu überwinden. Eigenständiges Denken und Initiativen seien nötig, um die Betriebe in Selbstverwaltung nach ökonomischen Prinzipien zu organisieren. Konkret hieße das, daß „die Arbeitskollektive ihre Direktoren selbst wählen und an der Planerstellung beteiligt werden“. Diese schon nicht mehr so ganz neuen Thesen von Wirtschaftsreform und Demokratisierung wurden von Professor Beltschuk dahingehend ergänzt, daß mit einem differenzierten Lohnsystem und dem Ende der „Gleichmacherei“, die gleichwohl zur Wirtschaftsreform gehörten, auch gesellschaftliche Widerstände gegen die Reform erzeugt würden. Doch alle sowjetischen Debattenredner waren davon überzeugt, daß die Sowjetunion heute nur vor der „Alternative Demokratisierung oder Stagnation“ stehe. „Es handelt sich um eine prinzipiell neue Etappe der sozialistischen Volksmacht, wo mit der Demokratie der Übergang im Namen des Volkes zur Macht durch das Volk vonstatten geht; von der Politik der Einwillligung und des Konsenses zur Entscheidung und Mitbestimmung“. Professor Beltschuk sieht in der Zukunft kaum Möglichkeiten für ein Mehrparteiensystem, wohl aber die Absicherung des Mechanismus der freien Ausdrucksmöglichkeit und die Beseitigung der „kritikfreien Zonen“.