Willkommen im Zeitalter der Ost–West–Talkshow

■ Die Geschichte einer ehrgeizigen Fernsehproduktion / Sowjetische und US–amerikanische Parlamentarier diskutieren live per Satellit über Rüstungsfragen / Gegenseitige Anschuldigungen, fruchtbare Auseinandersetzungen und ein wenig Humor

Aus Washington Stefan Schaaf

Willkommen im Zeitalter der globalen Talkshow namens „Hauptstadt zu Hauptstadt“, willkommen bei der ersten Live–TV–Debatte zwischen US–amerikanischen und sowjetischen Parlamentariern, willkommen unter 120 Millionen sowjetischen und einigen weiteren Millionen amerikanischen Zuschauern, die am Dienstag abend Zeugen einer medialen Premiere wurden. Zum erstenmal in der Geschichte des Fernsehens - und in der Geschichte des Ost–West–Konflikts - diskutierten amerikanische und sowjetische Parlamentarier live via Satellit vor dem Fernsehpublikum beider Supermächte. Der Debatte vom Dienstag, die sich um den Rüstungswettlauf drehte, sollen bis November zwei weitere über Menschenrechte und über regionale Konflikte folgen. Die Spannung stieg in den letzten Minuten vor dem Sendebeginn, eine halbe Stunde vor Mitternacht, in einem Anhörungssaal des Kapitols in Washington. Peter Jennings, im Zivilberuf Nachrichtensprecher der Fernsehgesellschaft ABC und für einen Abend Moderator der Supermächte–Talkshow, rutschte auf seinem Stuhl herum und hielt small talk mit seinem Gegenpart, Leonid Zolotarevski von der staatlichen sowjetischen Fernsehgesellschaft „Gosteleradio“. Grelle Scheinwerfer und Monitor– Türme hatten die würdevolle Szenerie des Parlamentssaals in ein Filmstudio verwandelt. Die Gäste wurden von Jennings gebeten, sich mit ihren großen und kleinen Bedürfnissen bis zu den Unterbrechungen durch die obligatorischen Werbespots zu gedulden. Nicht alle jedoch blieben bis zum Abspann, ihnen fehlte das Feuer in der Debatte, die erst um halb zwei morgens beendet war. Es dauerte fast zwei Stunden, bis jemand endlich etwas Leidenschaft in die Diskussion brachte. Der Augenblick kam, als Claude Pepper, Demokrat aus Florida und mit seinen mehr als achtzig Lenzen einer der Veteranen im Repräsentantenhaus, ans Mikrofon trat. „Dies könnte doch die Chance zu einer neuen Phase sein. Warum ist es nicht möglich, ein wenig Vernunft aufzubringen und gute und freundschaftliche Beziehungen aufzunehmen?“ Peppers Plädoyer für einen Bruch mit dem eingefahrenen Schema der Ost– West–Konfrontation erntete enthusiastischen Applaus des Studio– Publikums in Washington, und, nach einer Reise über eine Viertelmillion Meilen und zwei Fernsehsatelliten, auch in Moskau. Bevor Claude Pepper das Eis brach, waren viele altbekannte Vorwürfe zwischen Moskau und Washington hin– und hergeschoben worden, konterkariert von den gegenseitigen Zusicherungen, daß es nützlich sei, die Meinungsverschiedenheiten offen zu bereden. Senator Sam Nunn, einer der drei amerikanischen Teilnehmer im Studio, bohrte nach der sowjetischen Position zum Golfkrieg, Les Aspin, der Vorsitzende des Streitkräfteausschusses im Repräsentantenhaus, beklagte die konventionelle Überlegenheit des Warschauer Pakts in Mitteleuropa, und Trent Lott, der republikanische Abgeordnete aus Mississippi, ratterte gleich eine ganze Latte sowjetischer Übeltaten, vom Abschuß des koreanischen Jumbos vor vier Jahren bis zu der verwanzten Moskauer US–Botschaft, herunter. Die drei sowjetischen Teilnehmer, alle hochrangige Mitglieder des Obersten Sowjets, wehrten sich dagegen, auf die Anklagebank geschickt zu werden und forderten, Gemeinsamkeiten zu suchen und auch die positiven Entwicklungen zu erwähnen. Beispiele gibt es genug: die Anwesenheit amerikanischer Wissenschaftler im sowjetischen Atomtestgebiet, der Besuch, den Abgeordnete aus den USA kürzlich der Radaranlage im sibirischen Krasnoyarsk abstatteten, das vor einer Woche unterzeichnete Abkommen über ein zweites „rotes Telefon“, das einen verse hentlich entfesselten Atomkrieg verhindern soll, und vor allem die Fortschritte bei den Rüstungskontrollverhandlungen in Genf. Das Konfrontationsklima milderte sich in der Folge; sogar Humor kam auf, etwa, als Nevadas Sena tor Chic Hecht aus dem Publikum die Frage stellte, was seit Glasnost mit der sowjetischen Ideologie passiert sei, und ob Moskau sich demnächst auch noch von Marx und Lenin lossagen würde. Vom Video–Kollektiv zur „Spacebridge“ Die drei unter dem Etikett „Congressbridge“ laufenden Satelliten–TV–Diskussionen sind das bisher ehrgeizigste Projekt einer kleinen privaten TV–Produktionsgesellschaft, die Ende der siebziger Jahre in San Francisco gegründet worden war. Was als Video–Kollektiv begann und mit Antikriegs– und Ökologiegruppen zusammenarbeitete, organisierte erste unabhängig produzierte Live–Übertragungen für das amerikanische Fernsehen. Drei Stunden lang berichtete „Internews“ von einer Anti–Atom–Demonstration in Washington, ausgestrahlt wurde die Produktion über die quasi–öffentliche Fernsehkette PBS. Kurz zuvor hatte Kim Spencer, der Direktor von „Internews“ erfahren, daß jeder amerikanische Bürger das Recht erhalten hatte, Zeit auf einem der 36.000 Kilometer über dem Atlantik stationierten Fernsehsatelliten zu mieten und damit Programme auf dem kommerziellen US–Fernsehmarkt anzubieten. In den nächsten Jahren produzierte „Internews“ noch mehrere erfolgreiche politische Dokumentationen, die auf die gleiche Weise über PBS ausgestrahlt wurden, 1983 wurde zum erstenmal ein Programm - ein Rockfestival - in die UdSSR übertragen und dort gesendet. In folgenden Sendungen diskutierten sowjetische und amerikanische Naturwissenschaftler über den „Nuklearen Winter“, Journalisten über Meinungsfreiheit, Kinder über die Zukunft und Bürger der beiden Supermächte über so banale und gleichzeitig fremde Themen wie ihren jeweiligen Alltag in der Sowjetunion und in den Vereinigten Staaten. Kommunikation üben Doch die „Spacebridges“ ergeben nicht nur ungewöhnliche Fernseh– Erlebnisse, sie waren für beide Seiten dringend nötige Kommunikations–Übungen. David Hoffman, der politische Direktor von „Internews“, den sein Job häufig nach Moskau gebracht hat, warnt davor, die oft mühsam wirkenden Diskussionsformen der „Spacebridges“ als langweilig abzutun. „Die Teilnehmer hatten doch völlig verlernt, miteinander zu reden.“ Er erzählt, daß einige Abgeordnete, die jetzt an den „Congressbridge“–Debatten beteiligt sind, bei einem Besuch in Moskau wahre Verwandlungen durchgemacht haben, nachdem sie ein Weihnachtsfest bei ihren sowjetischen Gesprächspartnern verbracht hatten. Am frühen Mittwochmorgen ist er jedoch nur noch müde. Das hindert ihn jedoch nicht, nach der Sendung Sam Nunn zu dessen „gutem Job“ in der Debatte zu gratulieren. Der Senator sieht seine Erwartungen an den Abend übertroffen. „Ich habe schon Diskussionen mit Sowjetpolitikern erlebt, bei der wir zwei Stunden lang nur mit Vorwürfen eingedeckt wurden. Das war heute sehr viel offener.“