Ein letzter Versuch für eine klinisch tote AL

■ In Berlin formiert sich unter Noch– und Ex–Mitgliedern der Alternativen Liste Widerstand gegen die real existierende grün–alternative Politik / Forderung nach einer Richtungsentscheidung und Überwindung der lähmenden Realo–Fundi–Konstellation / „Öffentlicher Ratschlag“ soll Dialog mit Kritikern und Hoffenden neu eröffnen

Aus Berlin Mechthild Küpper

Die politische Woche begann in Berlin mit einer Sitzung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Aufklärung der Korruption und mit einer Pressekonferenz, in der eine Veranstaltungsreihe zum Thema „Rot– grüne Perspektiven für Berlin?“ vorgestellt wurde. Während die Abgeordneten immer lustloser in den Bau–, Parteispenden– und Schmiergeldaffairen der vergangenen fünf Jahre herumstochern, arbeiten andere energisch an einer Berliner Zukunft ohne einen CDU–FDP–Senat. In sechzehn Monaten wird in der Halbstadt wieder gewählt. Mit ganz anderen Tönen ging die letzte Woche zu Ende. Im Souterrain des Rathauses Schöneberg, dort, wo sonst der Ausschuß für Inneres, Sicherheit und Ordnung tagt, trafen sich rund drei Dutzend „Dissidenten“ und formulierten eine Diagnose über den Zustand der Grünen und der AL, wie sie niederschmetternder kaum sein kann. In der AL herrsche ein fürchterliches Klima, sie sei dialogunfähig, betreibe keine ökologisch–soziale Politik, schleppe die unbewältigte Gewaltfrage mit sich herum, sei perspektivlos in allen Fragen des ökologisch–sozialen Umbaus und spiele bei den Grünen eine ausschließlich negative Rolle. Über rot–grüne Bündnisse zu reden, sei eine „Scheindiskussion zwischen zwei Bankrottfirmen“, die „schlimmste Form der Kleinere–Übel–Theorie“, so Thomas Schmid, Mitglied der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz, freier Autor und bekanntes ökolibertäres enfant terrible. In den letzten Wochen haben elf Leute die AL verlassen. Darunter zwei ehemalige Pressesprecher, ein ehemaliger Abgeordneter, ein potentieller Nachrücker für das Europa–Parlament, diverse Kommunalpolitiker. Von „Massenaustritten“, so die Partei, könne nicht die Rede sein. Der Parteivorstand möchte die Ausgetretenen zu einem Gespräch über ihre Motive einladen. Die Alternative Liste kann sich in Umfragen stolzer zwölf bis 14 Prozent potentieller Wähler erfreuen. Bei den letzten Wahlen hatte sie zehn Prozent. Im Winter muß der letzte einer langen Nachrückerliste ins Abgeordnetenhaus, weil so viele gewählte Kandidaten auf das Vergnügen, für zwei Jahre Volksvertreter zu sein, doch lieber verzichteten. Die Arbeit der jetzigen Fraktion wirkt lustlos und angestrengt. Einen Umweltexperten gibt es gar nicht mehr. Und: In sechzehn Monaten wird in der Halbstadt wieder gewählt. Kein demokratisches Rückgrat Was der Parteivorstand von den Ausgetretenen zu hören bekommen wird, ist nicht neu. Es ist das gleiche, was viele ALer der ersten Stunde dazu bewog, sich schon seit geraumer Zeit aus der aktiven Arbeit zurückzuziehen, auf Par ties zwar den „Mut“ anderer zum Formulieren abweichender Meinungen anzuerkennen, selber jedoch nicht eine Gremiensitzung mehr zu besuchen. Den aktuellen Anlaß für die Rücktritte lieferte der Pressesprecher der Liste mit einer Erklärung zu Steinen, die Autonome in Kreuzberg auf einen taz–Reporter warfen. „Es ist schon erschreckend zu erleben, daß Teile der AL Mühe haben, auch nur die bestehenden Grundrechte mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Die unsägliche Presseerklärung durch Dirk Schneider vom 12.8.87 erweist sich nicht als böser Ausrutscher eines einzelnen Funktionsträgers, sondern wird vom GA (Geschäftsführender Ausschuß, d.R.) und Fraktion weitgehend gedeckt“, schrieb Helmut Horst, der Initiator der „Dissidenten–Runde“ in seiner Einladung. Wolfgang Schenk, bis zum April noch Abgeordneter der AL, attestierte seiner Ex–Partei eine „grauenhafte“ politische Kultur, ein miserables Verhältnis zur Pressefreiheit und „kein radikaldemokratisches Rückgrat“. Er zitierte einen Aufsatz in einer Parteizeitschrift, in dem der Verzicht Berlins auf eine Rechtseinheit mit dem Bund und die Frage des Gewaltmonopols als die identitätsstiftenden Momente alternativer Politik beschrieben wurden. Daß die vor den letzten Wahlen vehement abgelehnte Bündnisfrage mit der SPD neuerdings positiv beantwortet wird, sieht er als rein taktischen Schachzug an: „Könnt Ihr mir mal sagen, warum ich mich mit sowas auseinandersetzen soll?“ Otto Schily, Hoffnungsträger Udo Knapp, eigenwilliger Assistent von Waltraud Schoppe, und Hermann Pfütze, Professor an der Berliner Fachhochschule für Sozialarbeit, konnten es ihm sagen: Sie haben gerade ein Papier verteilt, in dem sie die AL auf eine eindeutige rot–grüne Wahlaussage festlegen wollen, mit Otto Schily als Regierendem Bürgermeister und als Programm die „Modernisierung des Kapitalismus“. Udo Knapp stimmte zwar dem Befund von Schenk zu, meinte aber, es „bleibt nichts anderes übrig“, als auf die rot–grün–Option zu setzen. Da politische Entscheidungen immer aus Bewegungen und nie aus Parteien heraus befördert würden, müsse man eben beides versuchen, um die AL zu bessern: Arbeit in der Partei und außerhalb. Eine echte Richtungsentscheidung habe es bei Grünen und bei der AL noch gar nicht gegeben, worum es jetzt gehe, sei, die lähmende Realo–Fundi–Konstellation zu überwinden. Und Otto Schily sei dafür der richtige Mann, „weil er alles hat, was die Grünen nicht mehr haben“. Basisdemokratie funktioniert nicht „Die AL lebt von den Fehlern anderer und von der Szene“. Die Gründergeneration sei verschwunden, die Partei spiele in der Stadt kaum eine Rolle, ihre Fähigkeit, „die Außenwelt zu ignorie ren“, geradezu unbegrenzt hoch, erklärte Dieter Esche. Der einzige der Dissidentenversammlung, der momentan ein Mandat für die Al innehat, Hans– Jürgen Kuhn, konnte die Zustandsbeschreibungen der Desillusionierten und Ehemaligen nur bekräftigen. Die AL–spezifische „Struktur von Basisdemokratie funktioniert nicht“, befand er. Diskussionen würden entweder verhindert oder zentristisch kanalisiert, die Arbeit in den Bezirken und Arbeitsgruppen liege darnieder, Orientierungslosigkeit herrsche. Anstatt sich vom Parteivorstand zu einem schadensbegrenzenden Gespräch über die Austrittsmotive einladen zu lassen, so schlug er vor, solle man die AL besser zu einem „Öffentlichen Ratschlag“ bewegen und ihre Kritiker bitten, sich zu äußern. Tatsächlich haben Parteimitglieder, die versuchten, die AL innerhalb ihrer Gremien zu einem Umdenken zu bewegen, in der Vergangenheit wenig Erfolg gehabt. Allein in diesem Sommer wurden drei Versuche unternommen, in der AL die „Gewaltfrage“ zu diskutieren. Peter Sellin, Bundestagsabgeordneter auf Berliner Ticket, versuchte nach der Reagan–Demonstration eine Selbstkritik. Das Ehepaar Köppl (auch er ein ehemaliger AL–Abgeordneter) probierte es mit Thesen zum „verlogenen Verhältnis der AL zur Gewalt bei Autonomen“. Diverse Mitglieder intervenierten nach der Erklärung zu den Steinen auf einen taz–Reporter. Alle „Antragsteller“ erlebten, daß man ihnen zwar privat zu ihrer „Courage“ gratulierte, sie mit ihrem Anliegen in der AL jedoch in stundenlangen Debatten geradezu aufliefen. Anti–Ghetto–Politik Bestärkt durch das enttäuschende Landtagswahlergebnis in Schleswig–Holstein und die lähmenden Debatten um die Grünen–Stiftung auf dem Parteitag in Oldenburg entschlossen sich nun einige zum letzten Versuch. Es gebe, so Helmut Horst, „keinen Anlaß, verschämt im Untergrund zu diskutieren“, ob die „AL noch zu retten ist“. „Es steht der AL frei, sich im Ghetto einzuigeln. Allerdings ist sie dann nicht mehr unsere Organisation.“ Dieter Kunzelmann, auch er einer der ehemaligen Abgeordneten, der nicht mehr in der Partei arbeitet, schlug kürzlich vor, die AL solle doch vier Jahre lang parlamentarische Pause machen, um wieder zur Besinnung zu kommen. Die Handvoll Leute, die sich am Freitagabend im teuer restaurierten Rathaus Schöneberg zusammenfand, haben die Wahlen 1989 noch nicht abgeschrieben. Jetzt, so war zu vernehmen, müsse man sich entscheiden zwischen einer „demokratischen oder einer totalitären Richtung“ und es müsse eine „reformpolitische Vision“ (Schmid) ohne alte Tabus artikuliert werden. Und zu beginnen hätte diese Richtungsentscheidung mit einem „Affront gegen die gegenwärtige AL–Politik“.