: Der schaulustige Portugiese
■ Eine Dank–Prozession in der DDR
Von Hans Magnus Enzensberger
Die DDR hat wieder einmal etwas begangen. Die Tat fand in der Karl–Marx–Allee statt und dauerte vierzig Minuten. Es handelte sich um das Begängnis des achtunddreißigsten Jahrestags der Staatsgründung. Staats– und Parteichef Erich H. stand, Ministerpräsident Willi S. stand, General Waleri B. stand ebenfalls. Alle anderen Anwesenden gingen oder fuhren. Bei den Gehenden handelte es sich um Angehörige der Offiziershochschulen der Nationalen Volksarmee, bei den Fahrenden um Abgesandte der motorisierten Verbände. Die Herren ritten auf Schützenpanzerwagen, Lastwagen mit vierzigrohrigen Geschoßwerfern, Kampfpanzern des sowjetischen Typs T–72 und auf großkalibrigen Haubitzen an ihren Vorgesetzten vorbei. Auch die Fallschirmjäger bewegten sich auf der Erdoberfläche in horizontaler Richtung und in gemessenem Tempo vorwärts. Den Höhepunkt des Begängnisses bildeten Flugabwehrraketen der Luftverteidigung, deren Pulver jedoch, um die friedlichen Absichten der Deutschen Demokratischen Republik auch dem böswilligsten Beobachter vor Augen zu führen, nicht verschossen wurde. Auch die taktischen und operativ–taktischen Raketen der Landstreitkräfte verharrten träge auf ihren motorisierten Lagerstätten, so daß die „Zehntausende von Berliner Bürgern“, die, wie das DDR– Fernsehen berichtete, das Festgeschehen am Bildschirm verfolgten, über den möglichen Effekt ihrer volkseigenen Knallkörper im unklaren gelassen wurden. Verletzt wurde infolgedessen niemand. Nur die westlichen Alliierten in Berlin waren anderer Meinung. Sie beklagten eine weitere Wunde, die durch die Prozession in der Karl–Max–Allee dem „entmilitarisierten Status“ der Stadt zugefügt worden sei. Sie hatten das aber aufgrund langjähriger Übung vorhergesehen und waren daher der Veranstaltung ferngeblieben. Zu ihrem Befremden hatte sich der portugiesische Botschafter in Ost–Berlin aus seinem Sessel erhoben und, sei es aus Neugier oder aus Zerstreutheit, dem prächtigen Schauspiel beigewohnt, das die schimmernde Wehr der Deutschen Demokratischen Republik seinen erstaunten Augen bot.
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