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Unabhängiger Reformclub in Ungarn gegründet

■ 150 Intellektuelle aus Opposition und Partei trafen sich, um im Rahmen eines „Ungarischen Demokratischen Forums“ gemeinsame Schritte zur Demokratisierung zu beraten / ZK–Mitglied Imre Pozsgai fordert Volksabstimmungen, Stärkung des Parlaments, unterschiedliche Eigentumsformen und Öffentlichkeit der Parteiarbeit

Von Farkas Piroschka

Die ungarische Gesellschaft scheint allmählich aus ihrem seit 1956 währenden Dornröschenschlaf zu erwachen. Das erste Mal seit der Einführung der sozialistischen Gesellschaftsordnung gab es im Parlament Mitte September heftige Auseinandersetzungen um ein Regierungsprogramm und auch ein gutes Dutzend Gegenstimmen. Mehrere Abgeordnete schlugen der Partei und der Regierung gegenüber Töne an, wie es bis dahin unvorstellbar war. Noch vor der Parlamentstagung am 8. September erhielten alle Abgeordneten einen Brief, unterzeichnet von hundert Intellektuellen, in dem sie aufgefordert wurden, angesichts der schweren und gefährlichen Lage des Landes ihr Gewissen zu prüfen und sich im Sinne der parlamentarischen Demokratie für oder gegen den Entwurf zu entscheiden. Neu an diesem Brief ist zweierlei: Zum einen forderte er zum ersten Mal in der ungarischen Nachkriegsgeschichte dazu auf, das Parlament ernst zu nehmen und von dem Recht des Widerspruchs Gebrauch zu machen. Zum anderen gehörten die Unterzeichner den unterschiedlichen Gruppierun gen der ungarischen Intelligenz an, die in ihrer Mehrheit nie zuvor mit oppositionellen Ideen aufgefallen waren. Partei und Opposition an einem Tisch Was aber nach der Parlamentstagung am 27. September in Lakitelek, im Hause des Dichters Sandor Lezsak geschah, kommt einer Sensation gleich. Dort trafen sich etwa 150 Personen, um über die Gründung eines „Ungarischen Demokratischen Forums“ zu beraten. An der Tagung nahmen so unterschiedliche Personen wie der Vorsitzende der „Patriotischen Front“ und ZK–Mitglied Imre Pozsgai, der Inhaber des ungarischen Exilverlags in New York, Sandoz Püski, und der Schriftsteller György Konrad teil, außerdem zahlreiche Geisteswissenschaftler, Ökonomen, Künstler und Schriftsteller. Der zu gründende Verein soll ein Diskussionsforum für radikale Reformpolitik werden. Jeder, der an diesem Thema Interesse hat, sei unabhängig von seiner politischen Überzeugung als Mitglied willkommen, erklärten die Teilnehmer. Eines der einleitenden Referate hielt der Vorsitzende der „Patrio tischen Front“, Pozsgai. Gleich zu Beginn forderte er die Anwesenden auf, ein alternatives Programm für eine radikale Reform auszuarbeiten. Es sei die Zeit gekommen, den „aufgeklärten Absolutismus“ und die Selbstbeschränkung der Reformpolitik hinter sich zu lassen. Dafür seien die politischen Bedingungen reif. Als erste Voraussetzung dafür nannte er die Notwendigkeit, das Verhältnis von Staat und Partei zu klären. Sollte es bei der Einparteienherrschaft bleiben, müsse die Tätigkeit der Partei öffentlich werden. Auch die Rolle des Parlaments sollte sich verändern. Die Standpunkte der Opposition - soweit sie auf dem Boden der Verfassung stünden - müßten ebenfalls berücksichtigt werden, er könne sich einen koalitionsmäßigen Zusammenschluß, in dem alle gesellschaftlichen Gruppierungen vertreten sind, durchaus vorstellen. Im weiteren schlug Pozsgai vor, vom Mittel des Plebiszits bei Fragen, die das Schicksal des ganzen Landes betreffen, Gebrauch zu machen. In diesem Zusammenhang schloß er auch eine Verfassungsänderung nicht aus. Damit sprach er die alte Forderung nach der Abschaffung des Staatsrates an. (Der Staatsrat ist das Organ der Gesetzgebung zwischen den Tagungen des Parlaments. Er ist also die wichtigste, gleichzeitig aber vollkommen unkontrollierte, gesetzgebende Körperschaft.) Er könne sich die Ablösung des Staatsrates durch die Einrichung des Staatspräsidentenamtes vorstellen, sagte Pozsgai. Weiterhin ging er auf die notwendige Reform der Eigentumsverhältnisse ein. Solange die Bürger vom Staat existentiell abhängig seien, fehlten die Fundamente für ein demokratisches System. Es müsse also eine breite Skala von Eigentumsformen existieren, an deren beiden Extremen das Staats– und das Privateigentum stünden. Zwischen diesen beiden Polen stelle er sich die verschiedensten kollektiven Eigentumsformen vor. Das erarbeitete Vermögen müsse garantiert werden, d.h. die Bürger müßten sich sicher sein, daß sie die Ergebnisse ihrer Arbeit behalten dürften. Mit einem Bekenntnis zur Pressefreiheit auch für Andersdenkende schloß Pozsgai sein Referat. Reform gegen Verfall zur „Kellnernation“ In der darauf folgenden Debatte wurden einzelne Teilaspekte behandelt, wie der Verfall des unga rischen Dorfes, nationale und ökonomische Probleme. Der bis vor kurzem mit Publikationsverbot belegte Schriftsteller Istvan Csurka beklagte den erschreckenden Verfall im Lande und nannte Ungarn eine „Kellnernation“, die jede Würde und Selbstbewußtsein verloren habe. Fast alle Teilnehmer bekannten sich zu einer demokratisch pluralistischen Gesellschaft, die es zu verwirklichen gelte. Der Schriftsteller György Konrad forderte die Teilnehmer auf, mit einer Gründungserklärung für das „Ungarische Demokratische Forum“ an die Öffentlichkeit zu treten. Er sieht im offenen und geschlossenen Auftreten der nationalen Intelligenz eine große Chance, weil sie ein mehrheitsfähiges Programm vertritt. Viele Beiträge enthielten zwar erheblich radikalere Ansichten als die von Pozsgai, zu einem direkten Widerspruch kam es aber nicht. Im Gegenteil, in seinem ausgesprochen positiven Abschlußbeitrag betonte Pozsgai seine Hoffnung auf die Möglichkeit eines Kompromisses. Die gemeinsame Erklärung der Beratung wurde allerdings bis heute nicht veröffentlicht. Dessenungeachtet muß der Veranstaltung große Bedeutung zugemessen werden. Zum einen, weil es sich hier - wie schon beim Brief der hundert Intellektuellen - um eine Gruppierung handelt, die sich eher durch eine gewisse Weltanschauung als durch die politische Zugehörigkeit definiert. Sie bietet daher tatsächlich die Chance, ein breites Sammelbecken für Reformbestrebungen zu werden. Zum anderen ist dies der erste Versuch, diesen Bestrebungen eine organisierte Form außerhalb des staatlichen Rahmens zu geben. In Polen würde man soetwas eine authentische Bewegung nennen. Vieles freilich hängt davon ab, wie man die Person und das Auftreten Pozsgais einschätzt. In dieser Frage gehen die Meinungen stark auseinander. Während für viele Pozsgai ein U–Boot der Partei ist und bleibt, der durch geschicktes Taktieren der Tagung die Spitze nahm, meinen andere, gerade die Anwesenheit und die Mitarbeit Pozsgais spräche für die Verwirklichbarkeit des Projekts und ermögliche einen Dialog mit der Partei und der Regierung. Klarheit über den Grad der Gesprächsbereitschaft in der Regierung wird die erneut anstehende Entscheidung bringen, ob die vor Jahren beantragte Herausgabe der Zeitschrift der Schriftsteller, der Kredit, erlaubt wird.

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