: Eine Revolution in der französischen Militärdoktrin
„Absoluter Blödsinn“, wetterte Kohls Sicherheitsberater Teltschik noch Ende Juli, als er von dem Vorschlag des ehemaligen französischen Verteidigungsministers und Mitterrand–Intimus Charles Hernu Kenntnis nahm. Hernu hatte sich in einem taz–Interview dafür ausgesprochen, die französische Neutronenbombe in der Bundesrepublik zu stationieren. Heute darf man mit Recht fragen, ob der Kanzler diese Auffassung seines Beraters teilt. Kohl jedenfalls hat den Eindruck erweckt, hinter den Kulissen mit Franois Mitterrand über eben die Stationierung der französischen Neutronenbombe in der Bundesrepublik zu verhandeln. Was Le Mondegestern aufdeckte, dokumentiert - nimmt man es wörtlich - einen bisher der Öffentlichkeit vorenthaltenen Stand der deutsch–französischen Militärkooperation. Le Monde publiziert im wesentlichen drei neue Informationen: 1. Es sei „sehr wahrscheinlich“, daß Kohl und Mitterrand über den Einsatz der französischen Neutronenbombe verhandeln. 2. Mitterrand stehe einer Entscheidung zur Serienproduktion der Neutronenbombe „mehr und mehr“ positiv gegenüber. 3. Mitterrand betrachte die Neutronenbombe nicht als Abschreckungswaffe, sondern stelle sie in den Rahmen der konventionellen Verteidigung, auch wenn sie eine „große politische Kontrolle“ (Mitterrand) erfordere. Neutronenbombe im Gefechtsfeld Man muß die drei Punkte der Reihe nach analysieren, um die Plausibilität des Informationsgehalts zu prüfen. Die Einordnung der Neutronenbombe in eine konventionelle Verteidigungsdoktrin ist eine für die französische Militär strategie revolutionäre Auffassung. Nach der gaullistischen Doktrin, deren schärfster Verfechter Mitterrand bisher war, galten die französischen Atomwaffen - und die Neutronenbombe ist eine Atomwaffe - ausschließlich der Abschreckung. Der Einsatz sowohl der strategischen wie der taktischen Atomraketen war nur im äußersten Ernstfall vorgesehen. Der innere Wi derspruch dieser Doktrin war bisher, daß Frankreich mit den taktischen Raketen, der Pluton und ab 1992 der Hades, Waffen besitzt, die auch für einen begrenzten Atomkrieg einsetzbar sind. Von Aufgabe und Notwendigkeit dieser Waffen, die wegen ihrer Reichweite (120 bzw. 350km) ihre Ziele bei einer Stationierung in Frankreich immer auf deutschem Boden haben werden, ist Mitterrand nun während seines Staatsbesuchs in der Bundesrepublik abgerückt. „Wer hat entdeckt, daß die Bestimmung der französischen Waffen Deutschland sei?“ fragte Mitterrand in Aachen. „Es ist die Technik, die uns dies aufgezwungen hat, wird man mir antworten, aber unsere Abschreckung beruht nicht auf diesen Waffen.“ Offen bezweifelte der Präsident damit den Abschreckungswert von Pluton und Hades, jenen Abschreckungswert der ihnen entsprechend der Doktrin allein zusteht. Die logische Konsequenz dieser Rede wäre nur der Abbau der Pluton und die Einstellung der Hades–Produktion. Unter genau diesen Vorausetzungen scheint Mitterrand nun der Serienproduktion der Neutronenbombe zugeneigt. Diese Auffassung ist wiederum für die französische Militärplanung revolutionär, hatte man doch bisher geplant, die Hades–Rakete mit der Neutronenbombe auszurüsten. An dieser offiziell bis heute immer wieder bestätigten Option hatten Militärexperten allerdings seit geraumer Zeit gezweifelt. Die Hades–Rakete galt für die Neutronenbombe als zu zielungenau, während die Neutronenbombe andererseits als Panzerabwehrwaffe im konventionellen Gefecht gepriesen wurde. Dieser Sichtweise des möglichen Einsatzes der Neutronenbombe hat sich Mitterrand nun offenbar angeschlossen. Es ist dann nur folgerichtig, wenn sich der französische Präsident mit einer solchen Einsatzoption für die Neutronenbombe unmittelbar an Bundeskanzler Kohl wendet. Als Gefechtsfeldwaffe muß die Neutronenbombe auf deutschem Boden stationiert und im Ernstfall eingesetzt werden. Das entspricht zudem der französischen Vorstellung, die potentielle militärische Auseinandersetzung nicht am Rhein sondern an der Elbe zu planen. Bonn soll eingebunden werden Das strategische Umdenken Mitterrands kann jedoch nicht auf rein militärische Überlegungen zurückgeführt werden. In der Tat mußte sich der Präsident bewußt sein, daß sich die deutsch–französische Verteidigungskooperation derzeit in einer Sackgasse befindet. Die deutsch–französischen Herbstmanöver in diesem Jahr wie auch die Querelen um gemeinsame Rüstungsprojekte hatten gezeigt, daß die konventionelle militärische Zusammenarbeit beider Länder noch in den Kinderschuhen steckt. Weiter erfüllten die auf deutschen Boden gerichteten taktischen französischen Atomwaffen viele bundesdeutsche Politiker, auch in CDU/CSU, mit Unbehagen. Darüberhinaus ist eine deutsch–französische Einigung im Bereich der strategischen Atomwaffen nach wie vor undenkbar. Was Mitterrand also bleibt, um das deutsch–französische Verhältnis einen qualitativen Sprung voranzubringen, ist die Neutronenbombe. Sie liegt produktionsreif in den Forschungslabors des französischen Kommissariats für Atomenergie und läßt sich in das NATO–Konzept der Vorneverteidigung integrieren. Das politische Interesse Frankreichs an einer solchen Entwicklung liegt dabei mehr denn je in der Bindung der Bundesrepublik an den Westen und voryallem an Frankreich. Seit die Nullösungen im Gespräch sind und Abrüstungsvereinbarungen zwischen den Supermächten immer wahrscheinlicher werden, ängstigt sich das gesamte offizielle Frankreich nicht nur über ein angebliches konventionelles Übergewicht des Warschauer Pakts, sondern ebenso über die mit der Ost–West–Entspannung wachsende politische und wirtschaftliche Freiheit der Bundesrepublik. Mit dem Wunsch nach einer militärischen Einbindung der Bundesrepublik, wie sie die Stationierung der Neutronenbombe östlich des Rheins zur Folge hätte, versucht Mitterrand seine politischen Druckmittel gegenüber Bonn zu wahren. Sein überzeugendstes Angebot wird dabei das bundesdeutsche Mitentscheidungsrecht über den Einsatz der Neutronenbombe (“Zweitschlüssel“) sein. Von rechts bis links treiben alle französischen Spitzenpolitiker ihren Staatspräsidenten in die atomare Kooperation mit der Bundesrepublik. Sein eigener Vertrauter Charles Hernu, den er noch kürzlich einem Interview für seine Verdienste würdigte, hatte bereits im Juli in seinem Interview mit der taz (28.7.) den Ton vorgegeben, als er sagte: „Wir müssen aufpassen. Die Gorbatschow–Vorschläge fordern uns heraus. (...) Die Dinge müssen vorankommen.“ In der Tat hat man bei den Verantwortlichen in Paris heute den Eindruck, daß Frankreich mit den Abrüstungsverhandlungen die Zeit davonläuft. Nur so ist zu verstehen, warum Militärdoktrinen, die über zwei Jahrzehnte unangefochten Gültigkeit besaßen - wie jene der taktischen französischen Atomwaffen - plötzlich ins Wanken geraten. Georg Blume
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