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„Lebend wollen wir sie wiederhaben...“

■ In Chile sind seit Anfang September fünf junge Kommunisten verschwunden / Beginnt eine neue „Zeit des schmutzigen Krieges“?

Santiago (taz) - Santiagos Fußgängerzone am Donnerstagnachmittag: Straßenverkäufer preisen ihre Ware an, Geschäftsmänner in Schlips und Kragen trinken Kaffee, Schuhputzer warten auf Kundschaft. Die Idylle wird plötzlich von 50 schreienden Frauen gestört: „Lebend haben sie sie mitgenommen, lebend wollen wir sie wiederhaben, ...“. Flugblätter werden in die Luft geworfen, auf denen fünf Namen zu lesen sind und die Forderung: „Keine Verschwundenen mehr“. Noch bevor die Polizei auftaucht, sind die Frauen des MEMCH (Bewegung für die Emanzipation der chilenischen Frau) in der Menschenmenge der Einkaufsstraße verschwunden. Zurück bleiben ein Transparent und ein paar Flugzettel, durch die viele zum ersten Mal von der Tragödie fünf chilenischer Familien erfahren, die seit Wochen in Krankenhäusern, Polizeikommissariaten und nach Gefängnissen nach ihren Söhnen, Ehemännern oder Brüdern suchen. Die Antwort, die sie bekommen, ist immer dieselbe: Hier sind sie nicht, wir haben sie nicht. Jose Julian Pena (36), Manuel Jesus Sepulveda (27), Gonzalo Ivan Fuenzalida (25), Alejandro Alberto Pinochet (23) und Julio Orlando Munoz Otarola (34) sind zwischen dem 7. und dem 13.September verschwunden. Sie kamen nicht mehr nach Hause, besuchten ihre Freunde nicht mehr und hielten Verabredungen nicht ein. Alle fünf gehören der Kommunistischen Partei an, arbeiten im Untergrund und sind den Militärbehörden aus unterschiedlichsten Zusammenhängen bekannt. In zwei Fällen gibt es Zeugen, die sahen, wie bewaffnete Zivile mitten in Santiagos Innenstadt einen jungen Mann entführten. Die Beschreibung paßt. Nun geht Angst um in Chile. Viele erinnern sich an die Zeit zwischen 1973 und 1977. Damals war Entführen und Verschwindenlassen eine gängige Methode des Geheimdienstes DINA, die Zahl der registrierten Fälle belief sich auf etwa 700. Seit zehn Jahren hatte es jedoch mit einer Ausnahme keine Verschwundenen mehr gegeben, selbst Pessimisten glaubten, daß diese Praxis der düsteren Vergangenheit angehöre. Aber gerade jetzt, wo Pinochets Wahlpropaganda auf vollen Touren läuft, wo er der Welt seine Berufung zum Demokraten zeigen will, gibt es Zeichen für eine Neuauflage des „Schmutzigen Krieges“. Laut Rechtsanwalt Carlos Margotta begann es mit den zwölf Morden im Juni: „Es gibt eine zentrale Behörde, die über unterschiedliche Kanäle arbeitet. Manchmal engagiert sie den Geheimdienst CNI, manchmal die Kriminalpolizei, manchmal Spezialeinheiten. Aber zweifellos gibt es keine unkontrollierten Gruppen.“ Alberto Cardemil, Staatssekretär im Innenministerium, bestreitet die Verantwortung der Regierung: „Sehr wahrscheinlich sind die fünf untergetaucht“, so Cardemil, dies sei eine von Kommunisten häufig angewendete Praxis. Die Angehörigen der fünf hoffen, daß Cardemil Recht hat, und daß die Gesuchten irgendwann wieder auftauchen. Menschenrechtsgruppen weisen jedoch auf die Ähnlichkeit der Fälle mit denen der 700 „Verschwundenen“ hin. Eine Aufklärung wird weder von der Regierung noch von der Justiz vorangetrieben. Und weil es sich um Kommunisten handelt, sagt mancher Chilene: „Es waren ja bloß Terroristen“. „Das Drama, das die Familien dieser fünf jungen Männer erleben“, so Victoria Diaz von der „Kommission der Verhafteten und Verschwundenen“, „ist hier nicht in dem Maße verurteilt worden, wie das bei einer so schwerwiegenden Tatsache anläge. Gibt es Bürger zweiter Klasse, die verschwinden können, ohne daß jemand die Stimme dagegen erhebt?“ Iris Scholz

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