: Bilanz und Bildung beim VoBo–Treffen
■ Beim bundesweiten Treffen der Volkszählungs–Boykott–Initiativen in Köln bestand Einigkeit: Den Zählfans wurde ein Daten–Gau (“GAD“) beschert / Informatiker fordern zum Weiterdenken auf / „Informationssysteme sind Machtfabriken, wie es sie noch nie gegeben hat“
Aus Köln Frank Möller
In Köln trugen sich am Wochenende zwei gleichermaßen bedeutende Veranstaltungen zu. Während Joseph Höffner seine katholische Karriere mit dem Abstieg in die Kardinalsgruft beendete, trafen sich nur wenige Kilometer entfernt an einem nicht weniger kühlen Ort 150 VertreterInnen von VoBo–Initiativen aus dem gesamten Bundesgebiet. Im Bürgerzentrum „Alte Feuerwache“ zogen sie Zwischenbilanz im Volkszählungs–Boykott. Stadt–Land–Gefälle Einige Beispiele: Die Stadt Hannover hat 85.000 Erinnerungsschreiben verschickt. 50.000 Bögen fehlen ihr derzeit noch. Im Landkreis Osnabrück dagegen ist die Erhebung so gut wie abgeschlossen. Während in hessischen Städten noch keine Heranziehungsbescheide verschickt wurden, haben sie auf dem Land die Adressaten schon erreicht. Das Verwaltungsgericht Gießen hat über Anträge nach Paragraph 80.5 (Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs) bislang nicht entschieden. Von den 1,5 Millionen Hamburgern haben zehn Prozent noch keine Bögen erhalten. 150.000 Bögen sind noch nicht wieder bei den Zählstellen eingetroffen, 50.000 davon allerdings bei den VoBo–Sammelstellen. 200.000 Bögen wurden falsch ausgefüllt. Im Saarland werden Widerspruchsverfahren von den Gerichten verschleppt, verhängte Zwangsgelder wurden noch nicht eingezogen. „Erinnerungen“ verschickt Rheinland–Pfalz hat vier Fünftel seiner Erhebungsstellen bereits geschlossen und 60 Prozent der Bevölkerung erfaßt. In den Großstädten (Speyer) ist der Zwangsvollstrecker unterwegs. In Köln werden derzeit „Erinnerungen“ verschickt, in Aachen seit Ende August Heranziehungsbescheide per Zustellungsurkunde. In Herdecke traf der erste Mahnbescheid bereits vor dem Stichtag der Volkszählung ein. Freiburg wird flächendeckend mit Heranziehungsbescheiden und Zwangsgeldern beglückt. Ob der Boykott ein Erfolg oder Mißerfolg ist, war in Köln zwar strittig, nicht aber, daß die eigene Arbeit den Zählfans das „Größte anzunehmende Daten–Desaster“ (GAD, wie der Informatiker Klaus Brunstein es nennt) beschert hat. Um nach der anstrengenden Beratungsarbeit der letzten Monate endlich von der „Scheißjuristerei“ weg– und dem eigenen Abbröckeln zuvorzukommen, hatten sich die Initiativen Weiterbildung verordnet. Der Informatiker Wilhelm Steinmüller, der Rechtsanwalt Rolf Gössner und Jürgen Seifert, ehemals Vorsitzender der Humanistischen Union forderten zum Weiterdenken auf. Es dürfe nicht länger allein um die Volks zählung gehen, die Initiativen müßten auch die Bereiche „Informatisierung der Kopfarbeit“, „Neue Sicherheitsgesetze“, „Vorverlegung staatlicher Verfolgung“, „Entwicklung der Bürgerrechte“ - 1988 jähren sich die Notstandsgesetze zum 20. Mal - in ihre Diskussionen mit einbeziehen. Einzigartige Machtfabriken Steinmüller beschrieb Volkszählung, neuen Personalausweis, ISDN und Sicherheitsgesetze als Teilphänomene einer Entwicklung, die mit voller Macht das Sozialleben der Menschen erfasse. „Die staatlichen und die kommerziellen Informationssysteme sind Machtfabriken und die Telekommunikationssysteme sind Verteilungssysteme für Macht. Das ist eine neuartige Struktur, die es in der Weltgeschichte noch nicht gegeben hat.“ Steinmüller forderte, für die „Transparenz des Informationssystems“ zu kämpfen, statt den Staat einfach auf seine Funktion zu reduzieren, ein „Überwachungsstaat“ zu sein, mit dem sich auseinanderzusetzen nicht mehr lohne. Die Reaktionen auf die komplexen Ausführungen Steinmüllers machten deutlich, daß sich Generationen, für die ein einfacher Personal–Computer noch ein Buch mit sieben Siegeln ist, schwer tun werden, solche Entwicklungen allein einmal zu verstehen. Die heutigen Informationssysteme bergen für die kritische Bewegung ähnliche Probleme wie einst Atomkraft und Atomwirtschaft, die auch erst von einer breiten Bewegung verstanden wurden, als eine jahrzehntelange Entwicklung bereits die ersten AKW hatte entstehen lassen. Die weitere Entwicklung einer Bewegung, die als VoBo–Bewegung begann, wird nicht zuletzt davon abhängen, wie weit sie sich sachkundig machen kann, bezüglich dieser „neuartigen Struktur“. Der VoBo–Kongreß in Köln war ein erster Ansatz dazu.
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