Auschwitz: Alptraum und Realität möglich

■ Konsequenzen aus Auschwitz oder: Das pseudoreligiöse Schuld– und Sühneritual der Täter

Denjenigen, die seit einer Woche von morgens bis abends über nichts anderes geredet hatten als über die historische Realität Auschwitz, über das Leben und Sterben in der Todesmaschinerie, über die Folgen der Vernichtung in der nächsten und übernächsten Generation - ihnen muß es wie ein monströser Hohn in den Ohren geklungen haben, als am Freitag, zum Abschluß des Auschwitz–Symposiums, der Historiker Dan Diner sagte: „Für das Bewußtsein ist Auschwitz ein außerhistorisches Ereignis.“ Auch im Publikum erntete Diner heftigsten Widerspruch für seinen Vortrag „Konsequenzen aus Auschwitz“. Noch am Tage vorher hatten zwei andere „Nachgeborene“, der polnische Psychiater und Mitarbeiter der Medizinischen Rundschau Zdzislaw Ryn und der Frankfurter Psychoanalytiker Helmut Dahmer, die Gegenwart von Auschwitz beschrieben: Ryn aus der Perspektive der Opfer, Dahmer aus der Perspektive der Erben der Täter. Ryn war einer der wenigen polnischen Teilnehmer, die ihren Vortrag in Englisch hielten: Seine Mutter habe die Deutschen gehaßt und ihnen niemals vergeben. Diese Haltung habe sie als Erbe hinterlassen, und obwohl er auf dem besten Weg sei, den Haß loszuwerden, bekannte Ryn, habe er doch zutiefst Angst vor den Deutschen und könne trotz vieler Versuche ihre Sprache nicht lernen... Ryn berichtete von den polnischen Untersuchungen des KZ–Syndroms, dem Alptraum derer, die immer noch ihre nächtlichen Erinnerungen an die Torturen der KZ–Zeit als real erleben und in ihrem wachen Leben nicht zurechtkommen. Aber auch die Witwen der Opfer (von Witwern sprach er nicht) sind bis heute von den Spuren des Verlustes gezeichnet; viele glauben bis heute nicht an den Tod ihres Mannes, leiden an psychosomatischen Störungen und Depressionen. Im Schatten der „Helden“, die das Lager nicht überstanden hatten, wurden die Frauen im öffentlichen Bewußtsein übergangen und lediglich periodisch zu Gedenktagen aus dieser Nische herausgeholt. Und bei den Kindern der Überlebenden, wußte Ryn aus seinen langjährigen Untersuchungen zu berichten, häufen sich Persönlichkeitsstörungen, nervöse Symptome, somatische Krankheiten, mißglückte Ehen, Alkoholismus und Kriminalität - und Selbstmorde. „Der Alptraum geht weiter.“ In der Bundesrepublik dagegen können die Täter „nachts gut schlafen und erfreuen sich bester Gesundheit bis ins hohe Alter“. Die Vergangenheit, so Dahmer, wird irrealisiert, als böser Traum umgedeutet. Und Auschwitz damit einerseits enthistorisiert, andererseits zu einem Symbol und Mythos erhoben, vor dem in einem „pseudoreligiösen Schuld– und Sühneritual“ periodisch eine „erbauliche Zerknirschung“ absolviert wird. „Lieber noch wird der braune Schrecken zu einem Mysterium erhoben, als daß man sich die Frage stellte, wem er nützte und wen er befriedigte, als daß man den Massenmord auf die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse bezöge, die Bewußtsein und Unbewußtes von Henkern und Opfern strukturierte.“ Heute hat Auschwitz und alles, wofür es steht, wieder einen Ort bekommen (wofür übrigens die polnischen Teilnehmer des Symposiums immer wieder den Holocaust–Film verantwortlich machten, auch wenn er von mittlerer bis schlechter Qualität sei). Aber kann es, auch nach der x–ten Lektüre von Erfahrungsberichten, vorstellbar werden? Die Lektüre der Auschwitz–Hefte mit den Erinnerungen der Überlebenden zieht den Leser in einem seltsamen Mechanismus gleichermaßen hinein wie heraus, als nähme man etwas so nahe vor die Augen, daß es dort wieder verschwimmt. Es gibt keine Erfahrungs–Brücke. Und Erklärungsmodelle wären nach dem, was Dan Diner ausführte, alle unzureichend - oder Ideologie. Es gab, meinte er, keine irgendwie geartete Zweckrationalität, nach der die Massenvernichtung sich ausrichtete: Sie war „Vernichtung um der Vernichtung willen“. Und ein solches Denken wie Handeln ist für das Bewußtsein nicht vorstellbar, das in allem und jedem antizipatorisch eine Zweckrationalität dem Gegner unterstellt und sei es die der Selbsterhaltung. Diese anthropologische Grammatik haben - wenn Diner hier richtig wiedergegeben wird - die Nazis außer Kraft gesetzt. Sie haben den Judenräten in den Gettos etwas vorgegaukelt, was die Radikalität des Vernichtungswillens lediglich zeitverzögert hat. Für die Opfer des Rassenwahns war ein Überleben nicht eine Frage der Rationalität, sondern des Zufalls. Da das nicht denkbar sei, bleibe Auschwitz für das Bewußtsein ein außerhistorisches Ereignis. „Wir leben so, als wäre es nicht passiert, wir müssen es aber, sonst könnten wir nicht leben.“ Auschwitz - ein schwarzes Loch also? Nein, sagte Diner dann später in der Diskussion, aber der Sinn der Beschäftigung mit Auschwitz liegt einzig darin zu sehen, daß es gewesen ist. Letzlich also ein Beitrag zur Mystifikation? Welche Bedingungen hat denn damals der Rassismus gefunden? Inwieweit hat das faschistische System nicht bürokratische Verselbständigungsmechanismen in Gang gesetzt, die sehr wohl in ihrem psychosozialen Mechanismus beschreibbar und begreifbar sind? Hat der Beamte Eichmann einen genuinen Vernichtungswillen gehabt oder nicht vielmehr eine Beamten–Mentalität, die gar nicht so außerhistorisch und monströs ist und lediglich ihre vernichtende Wirkung in einer bestimmten gesellschaftlichen Disposition entfalten konnte? Muß nicht jede nur mögliche Denkrichtung - ökonomisch, psychologisch, sozialpolitisch, philosophisch - ausprobiert werden, um das faschistische System verstehbar zu machen, um ein Gespür für Wiederholungs–Tendenzen zu bekommen? Die Überlebenden von Auschwitz, das war auf den Veranstaltungen immer wieder zu merken, haben Angst. Angst davor, daß sie - als „Seismographen“ (Maurice Goldstein) - sterben und ihre Geschichte von Verwaltern und Umdeutern vereinnahmt wird. Fritz Langbein schlug am letzten Abend vor, einmal im Jahr in allen Schulen Auschwitz zum Thema zu machen. Der Name Auschwitz müßte in Komitees und Vereinigungen tradiert werden. Und: „Der Ort Auschwitz soll ein namenloser Friedhof bleiben, ohne Gedenkstein, ohne Grabstein.“ Annette Garbrecht Die Auschwitz–Hefte Bd. 1. Hrsg. v. Hamburger Institut f. Sozialforschung, Beltz–Verlag 1987