: Aufbruchstimmung in der Krise
■ Acht Jahre nach dem Machtantritt der Regierung Thatcher versucht sich die britische Linke an der mühsamen Rekonstruktion des sozialistischen Projektes / Viel Kritik am Revisionismus der Labour Party
Aus Chesterfield Rolf Paasch
So etwas hat es in Großbritannien schon lange nicht mehr gegeben. Jemand hatte zu einem Treffen der gesamten Linken eingeladen, und die Versammlungsräume platzten aus allen Nähten. So geschehen am vergangenen Wochenende in der mittelenglischen Stadt Chesterfield, dem Wahlkreis des abgedankten Lords und Altlinken Tony Wedgewood Benn. Benn, die linke „Campaign– Group“ von Abgeordneten in der Labour Party sowie die „Socialist Society“ hatten zu einer „ökumenischen und radikalen sozialistischen Konferenz“ aufgerufen: ökumenisch, weil alle Schattierungen des linken Spektrums vertreten sein sollten; radikal, um sich von dem Teil der Labour Party abzugrenzen, der unter Parteichef Neil Kinnock den Weg in die politische Mitte angetreten hat. Und sie kamen: 2.000 Linke, die sich trotz des in Großbritannien grassierenden Volkskapitalismus störrisch zum Sozialismus bekannten: Akademiker und Aktivisten, Gewerkschafter und Arbeitslose, militante Trotzkisten und ungeduldige Revolutionäre. Wie wird Sozialismus buchstabiert? Zunächst wurden in drei großen Veranstaltungen die Haupthemen bestimmt, „Frieden und Internationalismus“, „Wirtschaft“ und „Demokratie“, zu allgemein, um konkret die eigenen Zielvorstellungen zu diskutieren, aber spezifisch genug, um die Vorwürfe an die Führung der Labour Party loszuwerden. Einig war man und frau sich nicht nur, daß die einseitige Abrüstungspolitik, welche die Labour–Führung gerne gegen mehr Wählerstimmen eintauschen möchte, nicht aufgegeben werden dürfe. Selbst der NATO–Austritt und die Blockfreiheit waren hier in Chesterfield kaum strittig. Noch vernichtender die Kritik an der Wirtschaftspolitik dieser vermeintlichen Partei der Arbeitnehmer, von denen bei den letzten Wahlen über die Hälfte für die Konservativen gestimmt haben. Labour habe in den vergangenen Regierungsperioden - von 1964–70 und 1974–79 - versäumt, in die Produktionssphäre einzugreifen. „Labour“, so formulierte es eine junge Teilnehmerin, „kann das Wort Sozialismus doch schon gar nicht mehr buchstabieren.“ Während diese verbalen Parteiprügel äußerst populär waren, ließen längere theoretische Abhandlungen über den „Fordismus“ oder den „Charakter des Staatsapparates“ die versammelten Aktivisten bald zappelig werden. „Hört doch auf mit dem gelehrten Rumreden, laßt uns lieber Aktionen gegen das Schicksal von vier Millionen Arbeitslosen organisieren.“ Das mühevolle „Erziehen, Agitieren und Organisieren“ der sozialistischen Clubs des 19. Jahrhunderts dauerte vielen einfach zu lange. Als der Ökonom Robin Murray dann noch warnte, „daß wir diesseits der Weltrevolution keine Modelle besitzen, um dem internationalen Kapitalismus auf globaler Ebene erfolgreich zu begegnen“, riß bei einigen der Geduldsfaden. Nein, ein sozialistisches Großbritannien, das auf dem Weltmarkt nur um Anteile kämpfe, wollten sie sowieso nicht. Konstruktiver waren da schon die Workshop–Diskussionen, wie z. B. in der Gruppe zum „Grünen Sozialismus“. Grüne Themen, so ein Redner, seien doch das Paradebeispiel für die Notwendigkeit einer kollektiven Überwindung des von Thatcher gepredigten Individualismus. Aber genau weil die Umweltproblematik klassenübergreifend wirken kann, wird sie von den Linken, die erst noch lernen müssen, daß ihnen mit der working class längst der historische Träger ihrer Revolutionsträume abhanden gekommen ist, weiterhin vernachlässigt. Für die aufgeschlosseneren unter den Teilnehmern war „Rot–Grün“ dagegen der willkommene Ausweg aus der Malaise eines labouristischen Politikverständnisses. Grüne Lehrmeister Die Abwesenheit der bundesdeutschen Euro–Grünen hatte hier allerdings einen negativen Effekt: So konnte man/frau hemmungslos über den rot–grünen Garten Eden in der Bundesrepublik schwärmen, ohne das auf diesen Politikfeldern in jüngster Zeit sprießende Unkraut der Zwietracht zur Kenntnis nehmen zu müssen. Was den Auseinandersetzungen zwischen den alten Kämpfern des harten Labour–Sozialismus, den jungen Sturm–und–Drang–Revolutionären und der gedankenvollen, mittelalten Garde fehlte, war das Füllen der benutzten Schlagworte mit faßbaren Inhalten. Wenn da von Verstaatlichungen die Rede war, fehlte die Frage, wie die unter Labour blühende Zentralisierung und Verbürokratisierung des Staatsapparates - dessen Unpopularität der Hauptgrund für den Erfolg der Thatcher– Regierung war - in Zukunft verhindert werden könnte. Und wo zum Zauberwort des „struggle“, des aktiven Kampfes vor Ort, gegriffen wurde, blieb die Frage, bei welchen Machtkonstellationen und bei welchem Rückhalt in der Bevölkerung die Organisation eines solchen Kampfes nur sinnvoll ist, ebenfalls außen vor. Mit dieser Problematik sieht sich die Linke gerade jetzt konfrontiert, wo die Regierung Thatcher landauf landab zum Großreinemachen in den links–infizierten Rathäusern aufgerufen hat. Sollen die Stadträte hier vor Ort Widerstand organisieren und sich dem neuen Anschlag der Rechten wenn nötig mit illegalen Taktiken zur Wehr setzen? Oder sollen sich die von Labour–Linken geführten Verwaltungen zur Kooperation bereiterklären, um bei den zentral verfügten Kürzungen von Jobs und Dienstleistungen lokal noch mildernd eingreifen zu können? Außer den gegenseitigen Vorwürfen der Sturheit und des Verrats gab es hierzu wenig hilfreiche Vorschläge, wie der Entdemokratisierung und Entmachtung der Lokalverwaltungen Einhalt geboten werden könnte. Beschlossen wurde am Ende, mehrere regionale Nachfolgekonferenzen zu organisieren, auf denen solche Fragen dann konkret behandelt werden könnten. Die britische Linke mag auf ihrem historischen Treffen in Chesterfield aus ihrem mehrjährigen Koma aufgewacht sein; ob sie sich demnächst auch vom Krankenbett ihrer insularen, rückwärtsgerichteten und realitätsfremden Orthodoxie erheben kann, wird die Zukunft zeigen müssen.
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