: Nürnberg hat sein Christkind wieder!
■ Die Jury hat es geschafft: Ein Repräsentativ–Christkind für den Christkindlmarkt 87 ist gekürt / „Weder Disco–Mieze noch Weinkönigin“ / „Goldige Erscheinung“ gegen „reizendes Wesen“ / Schülerin gewann den Kampf ums „Himmelsamt“
Aus Nürnberg Bernd Siegler
Wie wird man Christkind, dieses Jahr, in der Stadt Nürnberg? So: Angefangen hat alles, wie alle zwei Jahre, mit einem Aufruf in den örtlichen Tageszeitungen. Ein Kind dieser Stadt sollte die Bewerberin um das Amt des Christkinds sein, mindestens 162 cm groß, schwindelfrei und zwischen 16 und 18 Jahre alt. Dunkle Haare schließen eine Kandidatur nicht aus, sie lassen sich mit Perücke kaschieren. Als Schirmherrin des Christkindl–Marktes, der „seine gemütlich–besinnliche Note in das arbeitsreiche und unruhevolle Leben des modernen Nürnbergs“ (Eigenwerbung) mit zweieinhalb Millionen Besuchern in vier Wochen unwiderruflich bringt, wird sie dann durchs Land tingeln. 44 Mädchen folgten der Aufforderung und bewarben sich mit Lichtbild um das Ehrenamt. Nach einer Vorauswahl und einer Leserumfrage bei den örtlichen Zeitungen blieben schließlich sechs Kandidatinnen für das „Himmelsamt“ übrig. Die standen dann am Mittwoch im Rathaus einer zwölfköpfigen Jury gegenüber. Erst mals waren dieses Jahr in der Jury zusätzlich zu Journalisten der Nürnberger Lokalzeitungen und dem Verkehrsamt private Radio– Anbieter und ein Bild–Vertreter dabei. Sechs Frauen im Rat der Zwölf bremsten die Kommentare ihrer männlichen Kollegen. Nürnbergs Presseamtchef Dr. Neudecker weist die Jury zunächst auf den Ernst der Lage hin: „Das Christkind ist keine Weinkönigin, keine Schönheitskönigin und auch keine Disco–Mieze.“ Ein „nettes Wesen“ müsse sie haben und sich mit ihrer Heimatstadt identifizieren. Zunächst müssen die Kandidatinnen ein selbstgewähltes Gedicht vortragen. Christian Morgenstern, Eugen Roth, Hermann Hesse, Rainer Maria Rilke und Friedrich Schiller sind die bevorzugten Poeten. Die richtige Beantwortung von Fragen zu Nürnbergs Stadtgeschichte und -gegenwart lassen dann die Augen der Jury leuchten. Zum Schluß steht die Rezitation des Eröffnungsprologs auf dem Programm. Für diesen Part sitzt Schauspieler Erich Uhde als Experte in der Jury. Er begutachtet akzentuierte Aussprache, „kleine s–Fehler“ und „manirierte Vortragsart“. Die anderen Herren und Damen der Jury beschäftigen sich mehr mit dem Wesen der Mädchen, ob es ihrem Ideal eines Christkinds gleich oder zumindest nahekommt. Die eine ist „ganz goldig“, die andere mehr „lieblich kindlich“ oder „ausgesprochen reizend“. Auch der Bild–Zeitungs–Vertreter jubelt: „So gute hatten wir noch nie.“ Bei der „Generaldebatte“ geht es um ein ernstes Problem: „Kann eine Kandidatin bei einer für 16 Jahre erstaunlichen Reife noch jung und lieblich wirken?“ Nach vier Probeabstimmungen breitet sich Ratlosigkeit in der Jury aus. Das Rennen macht schließlich die 16jährige Doris Kormann, die ihr „offenes, nettes Wesen“ mit Tränen in den Augen bei der Bekanntgabe des Wahlergebnisses unterstreicht. Ihre Mitarbeit in der kirchlichen Jugendarbeit, ihre Vorliebe für Walzer, ihr Vorschlag, Peter Alexander für den Christkindlmarkt zu engagieren, und ihre Mahnung, die Adventszeit zur Besinnlichkeit zu nutzen, lassen sie für die Presse als „Glücksgriff“ erscheinen. Sie wird nun am 27. November die Budenstadt eröffnen. Der Markt ist zum Wirtschaftsfaktor der Stadt geworden. Er zieht heute soviel Touristen an, daß selbst das Verkehrsamt über die jährlichen Zuwachsraten besorgt ist. Über 3.000 Busse und 50 Sonderzüge steuern Nürnberg zu dieser Zeit an und lassen die Innenstadt für die Einheimischen zur Tabuzone werden. Zu groß ist das Gewühl, zu teuer das Angebot von Weihnachtsschmuck, Zuckerwaren, Bratwürste, Lebkuchen und Kitsch. Und da ist auch keine Besserung zu erwarten. „Mein Markt bleibt immer jung, solang es Nürnberg gibt und die Erinnerung“, bekräftigt alljährlich der Prolog.
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