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Politbüro prüft den „Fall Jelzin“

■ Moskaus Parteichef bietet Rücktritt an / Der von Gorbatschow geförderte Senkrechtstarter kritisierte am 21.Oktober im ZK die Parteiführung / Die „Perestroika“ geht ihm zu langsam / Außerdem neige Gorbatschow inzwischen zum Personenkult

Moskau (ap) - Der Moskauer Parteichef Jelzin hat dem Zentralkomitee der KPdSU seinen Rücktritt angeboten. ZK–Sekretär Lukjanow hat am Samstag auf einer Pressekonferenz in Moskau diese Information bestätigt. Er sagte, Jelzin habe vor dem Plenum des ZK am 21.Oktober den Arbeitsstil der führenden Organe der Partei kritisiert und beklagt, daß die Politik der Umgestaltung zu langsam gehe. Er sei aber im ZK auf Widerspruch gestoßen und habe inzwischen eingesehen, daß er einen Fehler gemacht habe. Sein Ersuchen, ihn von seinen Pflichten zu entbinden, werde vom Politbüro des Zentralkomitees und vom Moskauer Stadtkomitee der Partei geprüft. Die Äußerungen des ZK–Sekretärs wurden von TASS auch für die sowjetischen Bezieher verbreitet. In einer anschließend gesendeten redaktionellen Mitteilung der amtlichen Agentur heißt es aber: „Den Zeitungsredaktionen, die über die heutige Pressekonferenz A.I. Lukjanows berichten, wird nachdrücklich empfohlen, seine Antwort auf die Frage nach dem Ersten Sekretär des Moskauer Stadtkomitees der KPdSU nicht zu drucken.“ Am Freitag hatte schon die New York Times von dem Rücktrittsangebot Jelzins berichtet. Die Zeitung schrieb unter Berufung auf Parteikreise weiter, Jel zin habe Generalsekretär Michail Gorbatschow am 21.Oktober vor dem ZK vorgeworfen, er ermutige Personenkult und blockiere damit den Weg zu Reformen. Der Moskauer Parteichef selbst hat diese Darstellung am Freitag im US– Fernsehen CBS dementiert. Jelzin galt als Protege von Gorbatschow, als er im Dezember 1985 Viktor Grischin als Erster Sekretär des Moskauer Stadtkomitees der Partei ablöste und im Februar 1986 zum Kandidaten des Politbüros gewählt wurde. Er hat den Kurs Gorbatschows auch stets unterstützt, wurde aber übergangen, als das ZK im Juni drei neue Vollmitglieder des Politbüros wählte. Der New York Times zufolge hatte Jelzins Rede Auswirkungen auf die Planungen für ein Gipfeltreffen Gorbatschows mit US– Präsident Ronald Reagan. Gorbatschow könnte die Sowjetunion nicht verlassen, sagte ein Funktionär der Zeitung zufolge, wenn seine Autorität in Frage stehe, und er habe nicht den Eindruck entstehen lassen dürfen, er sei den Amerikanern gegenüber zu nachgiebig. Die ZK–Tagung hatte einen Tag vor der Ankunft von US–Außenminister George Shultz in Moskau stattgefunden. Lukjanow ließ offen, ob Jelzin auf der Tagung die Führungsspitze generell oder namentlich auch Gorbatschow kritisierte. Er legte aber Wert auf den Hinweis, alle Teilnehmer des ZK– Plenums ohne Ausnahme hätten die Position Gorbatschows und des Politbüros unterstützt. Inzwischen hat das Zentralkomitee die Basis der Partei aufgefordert, auf örtlichen und regionalen Parteikonferenzen in den bevorstehenden drei Monaten jenen Funktionären den Rücken zu stärken, die die „Vorhut der Perestroika (Umgestaltung)“ bildeten, und „die Bremser beim Namen“ zu nennen. Diejenigen Funktionäre, die ihren Aufgaben nicht gewachsen seien, sollten abgewählt werden. Die Direktive wurde am Samstag vom zentralen Parteiorgan Prawda als Aufmachung gedruckt. Die mehr als 300 Mitglieder des ZK werden an den Versammlungen teilnehmen. In der Direktive heißt es, diese Versammlungen dürften keine einstudierten Veranstaltungen mehr sein, sondern müßten auf demokratischer Grundlage, auf der Basis von Kritik und Selbstkritik und im Geist von Glasnost - vom ZK als „bolschewistische Offenheit“ definiert - stattfinden. Der Vizepräsident der Sowjetischen Gesellschaft für Politische Wissenschaften, Fjodor Burlazki, hat am Samstag auf einer Pressekonferenz bestätigt, daß es über Gorbatschows Reformpolitik zwischen führenden Funktionären zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen sei. Auch in der Bevölkerung seien grundlegende Reformen umstritten, sagte Burlazki. Nach seiner Einschätzung sind etwa ein Drittel der Arbeiter dafür, ein Drittel strikt dagegen, und ein Drittel wolle zwar ein paar Reformen, verhalte sich aber abwartend.

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