: Sandoz und die alltägliche Katastrophe
■ Mit zahlreichen Aktionen erinnerten Basler Umweltschutzaktivisten an die Sandoz–Katastrophe vor einem Jahr / Spärliche Proteste: Mangels Masse wurde nur eine der beiden Rheinbrücken besetzt
Aus Basel Thomas Scheuer
„Die alltägliche Katastrophe - 168.000 Kilogramm Fremd– und Giftstoffe stündlich!“ Das 20 Meter lange Spruchband wehte am Sonntag samt einem überdimensionalen chinesischen Drachenfisch über der Mittleren Rheinbrücke in Basel. Eine - polizeilich genehmigte - vierstündige Brückenbesetzung mit Musik, Infos und Straßentheater war eine der zahlreichen Aktionen, mit denen Basler Umweltschutzaktivisten am Wochenende unter dem Motto „Wir haben noch nichts vergessen“ die Erinnerung an die Sandoz–Katastrophe vor genau einem Jahr wachhalten und auf die permanente Bedrohung durch die Chemie–Giganten entlang des Rheins hinweisen wollten. Schon am Samstag Mittag war im Basler Stadttheater „Giftalarm“ gegeben worden. Die 300 Besucher der „Kleinen Bühne“ mußten die Zivilschutzräume unter dem Kulturtempel aufsuchen: realistische Einlage eines der Theaterstücke, die zwölf Schulklassen aus der Region zum Thema „Angst und Zukunft nach Schweizerhalle“ selbst geschrieben und inszeniert hatten. Ein Mit ternachtsgottesdienst zum Thema „,Wasser, Leben“ gab den Gläubigen unter den Erinnerungswilligen Gelegenheit zur Reflexion. 19 Minuten nach Mitternacht, dem Zeitpunkt also, an dem in der Nacht auf den ersten November vor einem Jahr der Großbrand im Sandoz–Chemielager in Schweizerhalle ausgebrochen war, setzten sich vom Theaterplatz und anderen Plätzen Basels Fackelzüge und Fahrradkonvois in Bewegung, teils schweigend, teils mit allerlei Lärmwerkzeugen Alarm schlagend, die auf der Mittleren Rheinbrücke zusammentrafen. Dorthin hatten die Aktion Selbstschutz, Greenpeace und andere Gruppen für Sonntag auch zur symbolischen Brückenbesetzung aufgerufen. Einige hundert Menschen tummelten sich dort bis Mittag bei „Zmorge“ (Frühstück), Filmen, Straßentheater, Infos und Musikeinlagen. Ein französischer Umweltaktivist aus Nantes berichtete über den dortigen Großbrand in einem Düngemittel–Silo von letzter Woche, welcher viele Parallelen zur Schweizer Katastrophe aufzeigt. Der Durst durfte ausnahmsweise mit garantiert schadstoffreiem Rheinwasser gelöscht werden: Greenpeace hatte es eigens von der Rheinquelle aus den Bündner Alpen nach Basel karren lassen. Überhaupt dominierten die einheitlichen Overalls und Firmenembleme der Medien–erprobten Umweltorganisation das Bild des volksfestartigen Treibens auf der Brücke. Einige hundert waren gekommen; die ursprünglich vorgesehene Belagerung einer zweiten Brücke fiel mangels Masse ins Rheinwasser. Basel ein Jahr nach dem „Ereignis“: Spärlicher Protest oben auf der Brücke; unten ziehen sonntägliche Kajakfahrer und ein elsässischer Ausflugsdampfer vorbei; am Ufer wie eh und je die Angelsportler; wie um den Normalzustand zu unterstreichen, zieht einer von ihnen eine stattliche Rotfeder an Land. Die alltägliche Katastrophe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen