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Psychologischer Krieg bei Tempo 120

■ Intercity–Schaffner plaudert über Schwarzfahrer–Unwesen / Der Routinier steigt aufgewärmt zu und setzt sich zu schlafenden Passagieren / Fragen nach Uhrzeit hilft nicht immer

Von Karl Nolte

Als El Dorado der Schwarzfahrer gilt der Intercity „Riemenschneider“ auf der Strecke Hamburg– Lüneburg unter Fachleuten beider Lager seit langem: In den nur 27 Minuten zwischen Abfahrt des Zuges vom Hamburger Hauptbahnhof und sanftem Einrollen in die Heidestadt war es dem vier Mann starken Schaffner–Team unmöglich, sämtliche Passagiere in den stets gutbesetzten Waggons auf den Besitz eines Fahrscheines zu überprüfen. Da die Distanz zwischen den Städten genau 51 Bahnkilometer beträgt und deshalb als Fernstrecke gilt, war ein gelöstes Ticket „HH–Lg und zurück“ zwei Monate gültig. Aufmerksame Pendler nutzten diesen Umstand und ökonomisierten ihre Fahrkosten, indem sie den nicht entwerteten Fahrschein bedenkenlos mehrfach verwendeten. Diesem gesetzwidrigen Treiben hat die Bahn schlau einen Riegel vorgeschoben: Fernfahrscheine gibts seit März dieses Jahres erst ab 100 Kilometern einfacher Fahrstrecke, und die für Hamburg–Lüneburg jetzt käuflichen Nahverkehrs–Tickets sind nur noch einen Tag lang gültig. Mit genialer bürokratischer Gegenwehr hatten die Bundesbahner dem Schwarzfahrer–Unwesen auf kurzer Distanz ein Ende bereitet. Zum Leid der BuBa–Strategen erwies sich jedoch auch dieser Schachzug als unzureichend, um die Beliebtheit der schnellen Intercitys unter zahlungsunwilligen Passagieren zu mindern: An die 100 Millionen Mark gehen dem Staatsunternehmen nach Auskunft der Bahndirektion Hamburg jedes Jahr durch Schwarz– und „Graufahrer“ verloren. IC–Chef– Schaffner Rolf Heinzke, seit 34 Jahren mit den Kniffen seiner Kundschaft vertraut, erzählt, warum. Fast wäre aus dem Gespräch gar nichts geworden: „Irgendein Dussel“ hat „ZB 12 gegeben“, und der IC „Deichgraf“ hat den Bahnhof Hamburg–Altona eine Minute vor der angezeigten Zeit verlassen. Schaffner Heinzke, eigentlich unterwegs zum startenden Lokführer, erweist sich jedoch spurtstark und erklimmt trotz seiner 50 Jahre den beschleunigten Zug. Kurz hinter Hamburg–Hbf be ginnt die Fahrschein–Kontrolle: Zwei Zugbegleiter verabschieden sich aus dem Dienstabteil gleich hinter dem Speisewagen und schwärmen in entgegengesetzten Richtungen aus. Frau Krüger übernimmt Speisewagen und Erste Klasse, ihr Kollege bewegt sich zur Zugmitte hin, wo er auf den dritten Kontrolleur treffen wird, der sich vom letzten Wagen aus vorarbeitet. Bis zum Erreichen des nächsten Haltepunktes Hannover haben die drei Gelegenheit, notfalls auch Toiletten– und Waschraumbenutzer nach dem Fahrausweis zu befragen. „Zwischen Hamburg und Han nover kriegen wir jeden“, erklärt Rolf Heinzke, kein Zweifel. Danach allerdings wird die Sache für die Schaffner schwierig: Wer saß von den durchschnittlich 400 Reisenden bereits seit Hamburg im Zug, wer ist in Hannover, Göttingen oder Fulda zugestiegen? Die nächste, Gewißheit verschaffende Generalkontrolle ist erst wieder in Frankfurt angesagt, wo ein anderes BuBa–Team den „Deichgraf“ übernehmen wird. Schwarzfahrer sind im Schnitt 20 bis 30 Jahre alt, intelligent und phantasievoll, das weiß Rolf Heinzke aus Erfahrung. Das Entlarven plumper Tricks - verstec ken unter den Sitzen oder einsperren in die Toilette - macht den routinierten Kontrolleuren keine Mühe. Bis zum Einlaufen des „Deichgraf“ in Frankfurt entbrennt bei 120 Stundenkilometern vielmehr ein Krieg zwischen beiden Lagern, der sich der psychologischen Schwächen des Gegners bedient. Dabei ist des Schwarzfahrers Ausgangsbasis nicht von Übel: Keine Bestimmung verlangt, vor Antritt der Reise ein Ticket zu lösen. Das geht immer noch im Zug, und muß erst geschehen, wenn der Schaffner erklärtermaßen dazu auffordert. Zwar kostet der während der Fahrt erstandene Schein drei Mark mehr als am Schalter, andererseits kostet die Reise unter Umständen gar nichts. Das verleitet manchen dazu, psychologische Hemmschwellen des Personals auszunutzen. Niemand ist gezwungen, die Frage: „Hier noch neu zugestiegen?“ wahrheitsgemäß zu beantworten. Viele stellen sich statt dessen gedankenversunken, ins Gespräch oder Lektüre jeder Art vertieft. Solches Benehmen verleitet den Kontrolleur oft zum Weitergehen, insbesondere, da viele fahrscheinbesitzende IC–Gäste wiederholte Überprüfungen mit Undank quittieren. Die Waffe der Zugbegleiter gegen diese Taktik ist einzig ihre Erfahrung: So hält sich der Anfänger unter den Schwarzfahrern häufig die Zeitung der Stadt unter die Nase, in der er zugestiegen ist (Der Routinier liest im „Deichgraf“ zum Beispiel die Hamburger Morgenpost). Bei schlechtem Wetter fallen neu Zugestiegene überdies durch frische Gesichtsfarbe oder nasse Kleidung auf (Andere haben sich zuvor im Wartesaal aufgewärmt). Oft leisten auch Mitreisende dem Schaffner unbewußte Hilfe. Rolf Heinzke: „Wenn ich in ein Abteil mit fünf Leuten drin reinschau und vier Augenpaare richten sich auf den Fünften, weiß ich natürlich Bescheid“ (Viele Schwarzfahrer gesellen sich deswegen zu schlafenden Passagieren oder wählen von vornherein den bequemen Speisewagen mit häufig wechselnder Kundschaft). Natürlich gelingen derlei Fiesematenten in der Regel nur denjenigen, die oft Bahn fahren und die neuralgischen Stationen mit Schaffnerwechsel kennen. Viele andere sind eher Gelegenheitstäter: Sogenannte „Graufahrer“, die ihren nichtentwerteten Fahrausweis anschließend bei einem BuBa–Schalter gegen eine Bearbeitungsgebühr von derzeit 9,20 Mark zurückgeben und Umtausch in Bares verlangen. Ein beredtes Zeugnis dieser Taktik legen mehr als 22 Millionen Mark ab, die die Bahn im vergangenen Jahr ihren Kunden wiedergeben mußte. Statistisch nicht erfaßbar bleibt ein weiteres Kontingent besonders raffinierter Graufahrer: Zwar wird ein Ticket gelöst, jedoch nicht mit Gültigkeit bis zum angepeilten Zielbahnhof. Den Gaunern reicht ein Fahrschein bis zum nächsten Halt des Zuges. Prägt sich der Betrüger als bereits überprüfter Fahrgast geschickt ins Gedächtnis des Schaffners - etwa durch Fragen nach der Uhrzeit - „kann er bei der nächsten Kontrolle auffallen“, meint BuBa–Obersekretär Heinzke - muß er aber nicht.

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