: „Deflationsspirale wie in der 30er Jahren“ droht
■ Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik fordert Ausgabenprogramm von jährlich 50 Milliarden DM / Inflation wäre dann unvermeidlich / Gewisses Verständnis für USA
Von Ulli Kulke
Ein düsteres Bild malt die „Arbeitsgruppe alternative Wirtschaftspolitik“ an die Wand, insbesondere vor dem Hintergrund des jüngsten Börsenkrachs. In ihrem gestern vorgelegten Jahresgutachten sagen die Bremer Forscher, auch bekannt unter dem Namen „Memorandum–Gruppe“, für die Weltwirtschaft sogar eine „schwere Depression“ für den Fall voraus, daß die Regierungen der westlichen Industriestaaten nicht mit massiven Finanzspritzen die absackende Investitions– Nachfrage öffentlich ankurbelten. Die Rede ist von 50 Milliarden DM - jährlich. Aufs Korn genommen wird auch der Bundesregierung liebstes Krisenlösungsrezept. Nach ihrer Ansicht laufen die Rettungsbemühungen, die aus Wirtschaftswissenschaft und Politik jetzt gefordert werden, genau in die falsche Richtung. So käme eine mögliche Verringerung des US–Haushaltsdefizits heute zur Unzeit, denn eine Ausgabensenkung der US–Regierung bedeute Nachfrageeinschränkung. Die Nachfrage auf dem westlichen Weltmarkt sei jedoch heute schon insgesamt zu gering, um das verfügbare Produktionspotential auszulasten. Die zu geringe Nachfrage ist es letztlich auch, worauf die Forscher indirekt den Börsenkrach selbst zurückführen. „Seit Mitte der 70er Jahre hat sich die Geldvermögensbildung gegenüber der realen Investitionstätigkeit verselbständigt.“ Soll heißen: Diejenigen, die Geld anhäuften, legten es lieber in Aktien als in realen Investitionen an, da ihnen letztere aufgrund allgemeinen Nachfrage mangels als nicht lukrativ genug erschienen, erstere jedoch große Kursgewinne versprachen. Darin habe der langanhaltende Kursanstieg an den Wertpapierbörsen ihre Ursache. Diese „Hausse“ und das Börsengeschehen habe sich immer weiter von der produktionswirtschaftlichen Grundlage gelöst: „Die Finanzmärkte erfüllten immer weniger ihre notwendige Finanzierungsfunktion für den realwirtschaftlichen Bereich. Sie wurden von Spekulationen dominiert.“ Um so dramatischer mußte der allgemeine Kurszusammenbruch für den Fall ausfallen, daß ein „run“ aus Aktienwerten einsetzt. Die Forscher verweisen hier auf ihre „wirtschaftsgeschichtliche Erfahrung“, die „den kritischen Betrachter seit langem zu der Einsicht führen mußte, daß bisher jeder Spekulationsboom zusammengebrochen ist, was sich auch jetzt wieder bestätigt hat“. Die Bremer Arbeitsgruppe übt scharfe Kritik an den Regierungen der Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit OECD, insbesondere der BRD, die in den letzten Monaten stets nur die USA aufgefordert hätten, ihre Haushaltsdefizite zu senken, „ohne zu bedenken, daß die Gesamtnachfrage am westlichen Weltmarkt bei der geforderten Ausgabeneinschränkung der US–Regierung“ durch „eine kräftige Nachfrage– und damit Wachstumsexpansion“ ausgeglichen werden müsse. Weil nun die Bundesregierung darauf verzichtet habe, im Lande selbst diese Nachfrage durch Ausgabenprogramme zu schaffen, und einseitig auf den Export gesetzt habe, sei sie mitverantwortlich für „das rasche Übergreifen der amerikanischen Börsenkrise auf die Börsen der stark vom Dollarkurs bzw. dem US–Markt abhängigen Exportnationen wie Japan und die Bundesrepublik“. Die zu geringe Kauflust der Deutschen ist auch Grund, weshalb das Gutachten indirekt Verständnis für die US–Regierung äußert, daß sie den Dollarkurs heruntergeredet hat: „Die Bereitschaft, den Dollarkurs durch zentralbankpolitische Interventionen im Bereich von DM 1,80 zu stabilisieren, wurde von der US–Regierung aufgekündigt, als sie den Eindruck gewinnen mußte, daß die Wachstumsversprechungen Japans und der Bundesrepublik nicht eingelöst würden.“ Seither macht der fallende Dollar der BRD–Exportindustrie das Leben schwer, weil sie in den USA kein Geld mehr verdienen kann, während die US–Produkte auf dem Weltmarkt konkurrenzfähiger werden. Die Schwäche des Dollars wird von der Memo– Gruppe allerdings auch als eine Stärke der DM interpretiert, der Währung der Exportweltmeister– Nation. Dies werde auch „Konsequenzen für die Stellung der DM im europäischen Währungssystem (EWS) zeitigen“. Offenbar gehen auch sie davon aus, daß es nach den Währungsturbulenzen zu einer Aufwertung der Mark im EWS kommen wird. Folgen des Crash Trotz der eingetretenen Entkoppelung der Finanzsphäre von der Realwirtschaft gehen die Gutachter von handfesten Auswirkungen des Aktiencrashs aus. Dabei stützen sie sich nicht nur auf die „seismographische Funktion“, die sie der Börse für die Entwicklung von Produktion und Konsumtion zuschreiben. „Der schockartige Kurszusammenbruch hat die Unsicherheit in der Wirtschaft erheblich gesteigert. Insbesondere in den USA (wo fast die Hälfte der Haushalte Aktien besitzt, d.Red.) ist damit zu rechnen, daß sich die Kaufzurückhaltung bei Konsumenten und Investitionszurückhaltung bei vielen Unternehmen weiter ausbreitet“, man erwartet also eine höhere Sparquote. Die Ankündigung der Automobilkonzerne der USA vom Dienstag, ihre Produktionspläne für das erste Quartal 1988 um zehn Prozent nach unten zu korrigieren, scheint den Pessimismus der Forscher zu bestätigen. Die japanische Konkurrenz wiederum erwartet seit einigen Tagen, daß sie die ihnen von den USA zugestandene Importquote von 2,3 Millionen Autos aufgrund der gefallenen US–Währung - und somit für die US–Käufer gestiegenen Dollar–Autopreise - nicht ausschöpfen kann. Probleme prognostiziert die Arbeitsgruppe dort, wo Aktienkäufe auf Kredit finanziert wurden. Das könne für die Gläubigerbanken Konsequenzen zeitigen: „Der Kurseinbruch kann somit auch bestimmte Kreditketten zerreißen, die über den unmittelbaren Bereich der Börse hinausgehen.“ Die Kapitalbeschaffung für die Unternehmen sei nun erheblich erschwert, Neuausgaben von Aktien würden, so sie überhaupt möglich sind, geringere Erlöse einbringen. Die Gutachter gehen dabei ehrlicherweise davon aus, daß ihre Lösungsrezepte auch nicht unproblematisch sind. Aufgrund der dollarbedingten Exportschwierigkeiten für die Handelspartner der USA müßten diese ihre Binnen–Nachfrage ankurbeln und sich somit auch für US–Importe öffnen. „Allerdings läßt sich der Übergang zu einem kräftigen Wachstum nicht inflationsneutral gewährleisten.“ Wahrlich, eine Geldentwertung droht, wenn die Größenordnungen realisiert werden sollten, die die Bremer Professoren vorschlagen: Für zwei Jahre sollen „jeweils 50 Milliarden DM in die beschäftigungswirksamen Felder einer qualitativen Wachstumspolitik gelenkt werden“, wobei ihnen besonders Maßnahmen im Umweltschutzbereich, bei neuen Technologien zur Energieeinsparung, im Wohnungsbau und dem öffentlichen Verkehr vorschweben. Die Alternative zur Inflation, die das Gutachten anbietet: „Eine Deflationsspirale wie in den 30er Jahren.“
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