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Blockade in der AIDS–Bekämpfung

■ Gestern ging ein hochkarätig besetztes AIDS–Kolloquium in Tutzing zu Ende / Von Manfred Kriener

Fünf Jahre nach den ersten in Deutschland bekanntgewordenen Fällen der Seuche ist das Nichtwissen um die Krankheit so bedrückend wie ihre Verbreitung. Die Perspektive der Krankheitsbekämpfung, das blieb als Ergebnis der dreitätigen Debatte übrig, ist niederschmetternd. Statt einer erfolgversprechenden Strategie dominiert die Blockade zwischen Aufklärern und repressiven Seuchenbekämpfern.

Zum großen Streit zwischen den beiden Hauptfiguren der AIDS– Bekämpfung, Gauweiler und Süssmuth, kam es nicht. Der bayerische Staatssekretär schüttelte der Ministerin artig das Händchen, und sein Justizminister Hillermeier schleimte in den süßesten Tönen über die „von uns allen hochverehrte Bundesministerin Frau Professor Süssmuth“. Die populäre CDU–Dame wiederum blieb mit ihrer Kritik an den bayerischen Zwangsmaßnahmen moderat und genoß ihre Publikumsgunst. Die Veranstalter hatten für beide eine eigene Podiumsrunde eingerichtet, so daß jede/r ungestört sein/ihr Ei legen konnte. Der Berliner Soziologe Rolf Rosenbrock hatte schon am Vortag die beiden grundsätzlich unterschiedlichen Strategien zur AIDS– Bekämpfung einander gegenübergestellt: einmal die klassische, „eigentlich nie erfolgreiche“ Seuchenstrategie (wie identifizieren wir möglichst viele Infektionsquellen, und wie legen wir sie still?) und zum anderen die aufklärerische (wie organisieren wir den gesellschaftlichen Lernprozeß, mit dem sich Mensch und Gesellschaft auf den Virus einstellen und ein Maximum an präventivem Verhalten entwickeln?) Rosenbrock appellierte an die „gesellschaftlich mobilisierbare Restvernunft“ zur Einschlagung des zweiten Weges gegen die Scharfmacher, gegen das „Diskriminierungs– und Hysterisierungspotential“ unserer Gesellschaft. Glaubt man ihm, kann AIDS leicht besiegt werden: „HIV und damit AIDS ist eine extrem schwer übertragbare Krankheit. Die Übertragung findet in epidemiologisch relevantem Ausmaß offenbar nur in den eng umgrenzten Situationen des penetrierenden Geschlechtsverkehrs und bei der gemeinsamen Benutzung von Injektionsgerätschaften statt, wenn mindestens ein Partner bereits infiziert ist. Wenn in diesen eng eingegrenzten Situationen präventives Verhalten Platz griffe, würde AIDS nach Heranwachsen der jetzt symptomlos Infizierten zu einer seltenen Krankheit werden. Derart günstige Voraussetzungen für die Botschaft der Prävention haben wir für keine andere wichtige Krankheit.“ Rosenbrock vermißt eine eindeutige Kondom–Kampagne in der BRD. Statt dessen werde mit Vokabeln wie Treue, Vertrauen, Solidarität mit den Kranken usw. an den Dingen vorbeigeredet. Die Rede von Rita Süssmuth machte deutlich, daß aus Gründen der (falschen) Moral eine „behutsame Sprache“ nötig sei. Diese Behutsamkeit kann allerdings Tausenden das Leben kosten. Die Aufnahme des Kondoms in die Aufklärungskampagne habe, so die Gesundheitsministerin, einigen Wirbel verursacht. Das Ministerium „sieht sich erheblichen Zwängen ausgesetzt“. Der Druck kommt von Fernseh–Intendanten, aber auch und gerade von Pharisäern wie Gauweiler und Hillermeier. Gauweiler wies den Vorwurf der Betulichkeit der Aufklärungskampagnen mit dem Argument zurück, er werde sich nicht der „allseits eingeübten Fäkalsprache“ bedienen. Und Minister Hillermeier geht mit Aufklärungsspots lieber ins Kino, weil bei ARD und ZDF zuviele Kinder zugucken. Gauweiler und Hillermeier verteidigten verbissen den bayerischen Maßnahmenkatalog, der selbst in kirchlichen Kreisen, die in Tutzing stark vertreten waren, nur auf Ablehnung stößt. Neben einigen berechtigten Argumenten (Kondome sind nicht vollkommen sicher, bestimmte Charaktere mit Aufklärung nicht zu erreichen) half am Ende doch nur der liebe Gott. Gauweiler zitierte einen jüdischen Rabbiner, der die Heimsuchung AIDS als Folge eines moralisch–ethisch nicht vertretbaren Lebens sieht, als „Verletzung der Regeln des göttlichen Gesetzes“. Die fatalen Auswirkungen des AIDS–Erlasses mußten die bayerischen Seuchenpolitiker öffentlich einräumen. Der Rückgang der Beratungen und Betreuungen, Angst und Mißtrauen der Schwulen, die Auflösung der bisher von Streetworkern noch zugänglichen Drogen–Szene und eine bis nach Nordrhein–Westfalen spürbare „Fluchtbewegung aus dem Süden“ (Süssmuth) wurden eingeklagt und blieben unwidersprochen. Auch auf wissenschaftlicher Ebene brachte der Kongreß wichtige Informationen und Korrekturen. Die Aussagekraft des HIV– Antikörpertests wird immer umstrittener. Zu einer ohnehin schon hohen Fehlerquote des Tests selbst kommt die verzögerte Ausbildung von Antikörpern hinzu. Der schwedische Epidemiologe Michael Koch berichtete von einem Zeitraum zwischen Ansteckung und Antikörper–Ausbildung von bis zu vier Jahren. Koch hat in einer nordschwedischen Kleinstadt inzwischen die ersten Ansteckungsketten in der heterosexuellen Bevölkerung rekonstruiert, die er in Tutzing vorstellte. An der heterosexuellen Ausbreitung gebe es keinerlei Zweifel mehr, die sexuelle Vernetzung der Bevölkerung sei verblüffend groß. Seine Arbeit bezeichnete er als „epidemiologische Archäologie“. Bei einer durchschnittlichen Inkubationszeit von zehn Jahren spiegele das heutige Erkrankungsbild die Infektionsausbreitung von 1977 wieder. Die längsten bisher verfügbaren Beobachtungen an Infizierten zeigten, daß 58 Prozent innerhalb von elf Jahren an AIDS erkrankt seien. Im Laufe der nächsten Jahre werde man diese Zahlen weiter nach oben korrigieren müssen. Hoffnung besteht für die Angesteckten in den langen Inkubationszeiten bis zu 12, 14 oder 16 Jahren, vermutlich noch länger. Im Laufe dieser Jahre verändere sich das Virus im menschlichen Körper ständig, es werde zunehmend aggressiver. Bei Untersuchungen habe man einen „ganzen Hagelschwarm von verschiedenen Virus–Varianten“ gefunden, bis zu 4.000 Virus–Isolate. Der schwedische Wissenschaftler wird hinter vorgehaltener Hand von vielen als „Apokalyptiker“ kritisiert. Allerdings hat er bisher mit seinen - düsteren - Einschätzungen recht behalten. Die Vorbehalte gegen ihn sind u.a. in den seltsamen Fraktionierungen in Sachen AIDS begründet. Gauweiler beruft sich neben dem Spiegel häufig auf Koch, der wiederum Sympathie für „die harte Gangart“ Bayerns zeigt. Auf der anderen Seite sitzen die Selbsthilfegruppen und „Aufklärer“, die wiederum Ministerin Süssmuth schonen, um ihr gegenüber Bayern den Rücken freizuhalten. Auf der Strecke bleibt dabei eine effektive AIDS–Bekämpfung, die Koch ernst nimmt und Süssmuth Dampf macht.

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