Gefangennahme oder Tod - Frage der Marktwirtschaft

■ Zwei renommierte Wirtschaftswissenschaftler schrieben in der Zeitschrift Konjunkturpolitik über Angebot und Nachfrage nach Gefangenen / Rationale Brutalität

Von Manfred Kleinhans

Wie wirkt sich die „Verschiebung der Nachfrage nach Gefangenen“ auf den „Gleichgewichtspreis“ für die besiegten Gegner aus? Was bedeutet eine Veränderung der einschlägigen „Transaktionskosten“ für die Aussichten dieser armen Schlucker, kurzerhand erschossen oder anderweitig ins Jenseits befördert zu werden? Entführungen, Geiselnahme, Erschiessungen, Gefangennahme und Freikauf von Menschen sind nichts als marktwirtschaftliche Phänomene; ob Kriegshandlungen eher brutal oder sanft ausgeführt werden, ist letztlich eine ökonomische Entscheidung, so lehrt uns die Wirtschaftswissenschaft. „Lösegeld für Gefangene“ - diesen Aufsatz hat nicht etwa ein arbeitsloser, gelangweilter Akademiker verfaßt, sondern zwei äußerst renommierte Wirtschaftsprofessoren, Heinz Buhofer und Bruno S. Frey, die in Lohn und Lehrauftrag stehen. Abgedruckt wurde das bemerkenswerte Traktat neben einem Artikel über eine „keynesianische Kritik an der orthodoxen Wirtschaftstheorie“ in der Zeitschrift Konkunkturpolitik. Im blutigsten Krieg, legen die eifrigen Professoren gleich richtig los, wird nicht einfach wild drauflosgedonnert und ungeistig abgemetzelt, wer oder was sich dem Kämpfer in den Weg stellt. Nein, selbst im tobenden Schlachtgetümmel ist der Landser ganz „homo oeconomicus“; er bekriegt rational. Denn auch an der Front gilt das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage, herrscht der „Markt für Gefangene“: Kalkuliert töten oder wohlüberlegt Kosten und Nutzen einer Gefan gennahme abwiegend, den Feind einfangen und auf ein stattliches Lösegeld schielen. Der ökonomische Laie mag ungläubig stutzen, aber, so lehren die Ökonomen, man bedenke: Feind ist nicht gleich Feind. Ein General ist mehr wert als ein Kanonier. Wirtschaftwissenschaftlich liest sich das dann so: „Ein besiegter Gegner wird geschont und gegen ein Lösegeld freigelassen, wenn er für den Gegner einen Wert darstellt.“ Bestimmt wird der Preis durch die heiligen Kühe der Marktwirtschaft, das „Angebot“ und die „Nachfrage“. Bereits die alten Römer richteten sich nach diesem ehernen Prinzip. Und: In der Ilias wurde der tote Hektor gegen einen beträchtlichen Preis ausgelöst. Während „Alte und Kranke mit wenig Geld losgekauft werden“ konnten. Und letztlich belegt eine „verbindliche Preistafel für den Loskauf von Gefangenen“, die nach niederen und höheren Berufen und Alter, nicht aber nach Geschlecht gestaffelt ist, die „geschichtliche Bedeutung“ von Hypothese eins. Im „Rauzonierungskartell“ zwischen Österreich und Schweden von 1642 führen die Feldmar schalls die Preisliste an mit 20.000 Taler. Der „Gemeine Soldat“ wurde am Ende der Skala mit 8 Talern taxiert. Ob Gefangene gemacht werden oder nicht, hängt (auch) von Kost und Logis sowie den „allgemeinen Umständen der Gefangennahme“, aber auch den „Kosten für Bewachung und Pflege“ ab. „Deshalb töten Guerilleros die meisten Gegner.“ Die Gefangenen–Konjunkturforscher berufen sich dabei auf keinen geringeren als Che Guevara und seine Schrift „Venceremos!“ (1968, S. 33–34) „Ähnlich ist die Situation für Unterseeboote, wo aus räumlichen Gründen meist keine schiffbrüchigen Gegner aufgenommen werden können.“ Womit „Hypothese 2“ bewiesen wäre, daß nämlich „die Schonung der besiegten Gegner“ eine Frage der Kosten ist. Wie wahr: Um auf einem Tauchboot Gefangene unterbringen zu können, müßten größere und mithin teurere Modelle angefertigt werden. Mitnichten sei dagegen der „moralische Faktor (wie die religiöse Zugehörigkeit)“ ausschlaggebend. Vielmehr bestimmen die kostenintensive Bewachung, Pflege und Verpflegung, oder anno dazumal der mögliche Verkauf auf dem Sklavenmarkt das Schicksal der Gegner. Hypothese 4: „Je effektiver die Nachfrageseite organisiert ist, desto höher ist der Wert eines Gefangenen.“ „ceteris paribus“ (wenn andere Faktoren vernachlässigt werden) versteht sich bei den Ökonomen von selbst. Ist beispielsweise die Erbschaftsfrage noch nicht geklärt, wird die Ehefrau ihren reichen Ehemann freikaufen. Hat er dagegen sein Testament schon gezeichnet, ist es sein Pech. Der Beweis: Als 1448 ein Freiburger in bernische Gefangennahme geriet und seine Frau 200 Gulden Lösegeld berappen sollte, erklärte sie, „dieser (ihr Mann) sei eine solche Summe nicht im geringsten wert, und sie denke nicht daran, mit dem Geld herauszurücken“. Wenn aber das Töten beziehungsweise das Nicht–Töten eines Gegners ein marktwirtschaftliches Phänomen ist, folgern die Schweizer Professoren in Frageform, warum werden dann nicht „kollektive Institutionen“ eingerichtet, um den Markt für Gefangene zu beeinflussen, die „Transaktionskosten“ zu verändern? Beispielsweise über eine allgemeine Pflicht zum Loskauf Gefangener seitens des Staates? Die Professoren antworten selbst: „Sie (die Soldaten) sollten nicht durch die Möglichkeit des Verkaufs von Gefangenen davon abgelenkt werden“, nämlich den Feind zu schlagen und zu vernichten. Schließlich würden „sonst die Preise wesentlich steigen und der Anreiz zur Gefangennahme stark erhöht“. In einem Diagramm mit vielen Punkten, steigenden und fallenden Kurven, die Gefangene und Getötete darstellen, gelang den begabten Wissenschaftlern im Kapitel „Markteingriffe“ der ökonomische Nachweis dafür, daß eine staatliche Loskaufpflicht keine Chance hätte. Ob die RAF Schleyer entführt, oder die Camorra die Mittel für ihren laufenden Betrieb erpreßt; in Teheran (1980) amerikanische Botschaftsangehörige als Geiseln genommen werden; im Mittelalter die christlichen Kreuzfahrer blutrünstige Massaker verüben, oder heutzutage die Bundesregierung DDR–Inhaftierte freikauft (ein Arzt kostet mehr als ein gewöhnlicher Arbeiter); ob Kaiser Heinrich VI dem österreichischen Herzog Leopold 50.000 Mark für König Löwenherz bezahlt - stets handelt der Mensch als rationaler Ökonom. Herzog Leopold gab König Löwenherz frei, weil er für diese Summe die Stadtmauer Wiens bauen konnte. Und Heinrich VI verlangte und erhielt von England die dreifache Summe als Lösegeld, womit er einen seiner Kreuzzüge nach Sizilien finanzierte. Dieser „Betrachtung der Evidenz über den Markt für Kriegsgefangene“ liegt ein Modell menschlichen Verhaltens (von Gary Becker) zugrunde, das besagt, „daß Unterschiede in Verhalten und Änderungen in der Zeit auf Änderungen in den Einschränkungen und nicht auf (unerklärbare und nicht operationalisierbare) Präferenzänderungen zurückzuführen sind“. So werden plötzlich Fakten, geben sich die Ökonomen ganz erstaunt, „zentrale, theoretisch notwendige Erscheinungen“. Und so kann plötzlich die Brutalität von Kriegshandlungen „auf die institutionellen Bedingungen des Kriegsgefangenen– Marktes (sowie technologischer Gegebenheiten) zurückgeführt werden“. Und die Wissenschaft lehrt uns hier, daß „unter bestimmten Bedingungen“ und „in bestimmten historischen Perioden“ und „für bestimmte Gefangene“ die Existenz eines Marktes für Gefangene vorteilhaft war. Ja, „menschliches Leid konnte (dadurch) sogar wesentlich vermindert werden“. Markt sei Dank also, aber ebenso der Fritz Thyssen Stiftung, die Bruno Frey für diese bahnbrechende Arbeit finanziell unter die Arme griff. Gelesen in Konjunkturpolitik 1, 1987. „Lösegeld für Gefangene“, von Heinz Buhofer und Bruno S. Frey.