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In Genf knallten die Sektkorken

■ Zum ersten Mal in der Geschichte der Atomwaffen einigen sich die Supermächte auf reale Abrüstung

Wohl kaum ein Waffensystem der Neuzeit hat für soviel Stimmung gesorgt wie die in Europa stationierten US–Mittelstreckenraketen Pershing II und Cruise Missile. Jetzt sollen sie auf den Müllhaufen. Falls der US–Senat das Abkommen nicht noch sabotiert, wird erstmals ein technisch nicht veraltetes Waffensystem verschrottet.

War „njet“ das bislang bekannteste russische Wort im Westen, so wird es jetzt wohl „khoroscho“ werden. Zumindest in Genf überraschte in den letzten Wochen das ungewöhnlich häufige „okay“ der sowjetischen Unterhändler, mit dem sie auf Vorschläge der US– Delegation zum Abbau aller atomaren Mittelstreckenraketen reagierten. Zuletzt wenige Minuten vor dem anvisierten Ende der Verhandlungen am Dienstag abend, als Außenminister Schewardnadse entgegen den Erwartungen vieler Beobachter den US–Vorschlag für gegenseitige Inspektionen von Raketenfabriken annahm. Damit hatte er das letzte Hindernis für den Gipfel Reagan– Gorbatschow Anfang Dezember in Washington aus dem Weg geräumt, auf dem das „erste wirkliche Abrüstungsabkommen“ in der Nachkriegsgeschichte der Supermächte unterzeichnet werden soll. Die beiden Außenminister charakterisierten die Einigung als ersten Schritt auf dem Wege zur totalen atomaren Abrüstung. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser Die Fragen der Verifikation des Abkommens waren bis zum Schluß das zentrale Problem der Verhandlungen. Strittig war vor allem, inwieweit die sowjetischen Angaben über Stationierungsorte und Zahl der Raketen stimmten. Angeblich haben die Sowjets 600 Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite mehr, als sie bislang angegeben hatten. Unklar war weiterhin, welche Raketenfabrik in den USA für sowjetische Inspektionen im Gegenzug zu US– Kontrollen in sowjetischen Fabriken geöffnet werden sollte. Die sowjetische Delegation soll darauf bestanden haben, eine Cruise–Missiles–Fabrik inspizieren zu können. Jetzt einigten sich die Kontrahenten auf einen Überprüfungsmechanismus für den Abbau aller atomaren Mittelstreckenraketen kürzerer und längerer Reichweite innerhalb von drei Jahren, der beiden Seiten das Recht einräumt, Inspektionen vor Ort durchzuführen. Das Überwachungssystem, das beiden Seiten Inspektionen mit kurzer Anmeldefrist in einigen ausgewählten Raketenfabriken und Basen einräumt, soll 13 Jahre lang beibehalten werden. Mit Champagner feierten Dienstag abend die Delegationsmitglieder das Ende der monatelangen, zähen Verhandlungsarbeit, die am 11. Oktober vor einem Jahr eine spektakuläre Wende erfuhr, als Gorbatschow beim Gipfeltreffen in Reykjavik das Junktim zwischen der INF– und den beiden anderen Genfer Verhandlungsrunden zu Langstreckenraketen (START) und SDI aufgab. Zum Entsetzen der Hardliner im Pentagon und in der NATO stimmte Reagan damals der Absicht zu, bis auf jeweils 100 Sprengköpfe in Asien und Alaska sämtliche landgestützten Mittelstreckenraketen abzubauen. Durch eine Reihe von sowjetischen Angeboten und US–Konzessionen wurden die wesentlichen Hindernisse für einen entsprechenden Vertrag seitdem ausgeräumt. Allerdings versuchten Gegner der Null–Lösung wie der ehemalige NATO–General Rogers mit dem Hinweis auf die konventionelle Überlegenheit der Warschauer–Pakt–Truppen und die Präsenz der sowjetischen Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite ein Abkommen zu verhindern. In der eigenen Propaganda gefangen Gorbatschow konterte jedoch im Frühjahr mit dem Angebot, auch diese Raketen in eine dann „doppelte Null–Lösung“ miteinzubeziehen. Die populäre Logik der von Reagan 1981 aus propagandistischen Gründen in die Welt gesetzten Null–Lösung machte es der US–Regierung und der NATO unmöglich, Gorbatschows Vorschlag abzulehnen. Auch der überraschende Alleingang Kohls, der eine „dreifache Null–Lösung“ auch für die atomaren Kurzstreckenraketen forderte, konnte letzendlich daran nichts ändern. Schließlich verzichtete Gorbatschow noch auf die 100 in Asien stationierten Mittelstreckenraketen. Im Gegenzug begrub das Pentagon seine Pläne, die in der Bundesrepublik stationierten Pershing II in Pershing Ib mit verminderter Reichweite und die bislang stationierten 200 Cruise Missiles in seegestützte Marschflugkörper umzuwandeln. Erwartungen auf einen baldigen Vertragsabschluß erzeugten schließlich die weitgehenden sowjetischen Verifikationsvorschläge, die nach der jahrzehntelangen Weigerung, sich auf eigenem Territorium in die Karten gucken zu lassen, eine revolutionäre Wandlung bedeutete. Nach wie vor Konfusion in der NATO Emsige Betriebsamkeit herrscht dieser Tage in den Schaltstellen der westlichen Allianz, um den angeblichen Triumpf westlicher „Nach“rüstungs–Diplomatie zu verdauen. Hatten Gorbatschows Abrüstungsinitiativen bereits Ende letzten Jahres beträchtliche Verwirrung beiderseits des Atlantiks verursacht, so sind die außen– und rüstungspolitischen Strategen, auch die der Bonner Regierungskoalition, angesichts des unterschriftsreifen Abkommens heillos zerstritten: Wie soll auf diese Herausforderung reagiert werden? Auf diese Frage finden sich eine gute Woche vor der Unterzeichnung des Abkommens in Washington eine stattliche Anzahl unterschiedlicher Antworten. Das Pentagon will das Arsenal der atomaren Kurzstreckenwaffen (Lan ce–Raketen) modernisieren und aufstocken. Außerdem soll der Abbau der landgestützten Mittelstreckenraketen durch bis zu 9.000 see– und luftgestützte Cruise Missiles kompensiert werden. Natürlich ist es aus amerikanischer Sicht auch die Aufgabe der Westeuropäer, die konventionellen NATO–Streitkräfte zu verstärken, eine Forderung, von deren Erfüllung einige widerspenstige US–Senatoren wie der Rüstungsfachmann Sam Nunn die Ratifizierung des Abkommens abhängig machen wollen. Die Regierungen in London und Paris sind zudem strikt gegen jeglichen Abbau der atomaren Kurzstreckenraketen. Diese Forderung Kohls vom vergangenen Frühsommer ist auch in der Bonner Koalition heftig umstritten. Wörner und die CSU stehen eher auf Seiten der Schutzmacht, während die Fraktionschefs von CDU und FDP vehement weiterhin Abrüstungsschritte im Kurzstreckenbereich fordern. Genscher seinerseits propagiert zusätzlich Verhandlungen über konventionelle Abrüstung. Eine spannende Periode der Konzeptlosigkeit in den Regierungsetagen, die sich die Friedensbewegung zunutze machen könnte. Michael Fischer

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