piwik no script img

Ost–Berlins Protestszene wird aufgerollt

■ Die Graswurzelbewegung der DDR fürchtet um ihre mühsam erkämpften Freiräume

Die Hoffnung von Kirchenleuten und unabhängigen Gruppen, die Durchsuchung der Umweltbibliothek sei vielleicht nur eine isolierte Einzelaktion der Staatssicherheit, bestätigt sich offensichtlich nicht. Bis gestern mittag setzten Polizei und Stasi Durchsuchungen und vorläufige Festnahmen von Protagonisten der Prote

Ost–Berlin (taz) - „Heute Umweltbibliothek - und morgen wir“ stand am Mittwochabend auf einem Transparent zu lesen, welches Teilnehmer einer Mahnwache vor der Ost–Berliner Zionskirche Passanten entgegenhielten. Die auf dem Transport ausgedrückte Befürchtung ging dann noch schneller in Erfüllung, als die Demonstranten prophezeit hatten. Die ursprünglich für die Dauer von zwei Tagen vorgesehene Mahnwache, mit der gegen die Durchsuchung der Umweltbibliothek in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch protestiert werden sollte, war bereits nach zwei Stunden beendet. Die Polizei griff sich das runde Dutzend Demonstranten ab und transportierte die Teilnehmer in Polizeifahrzeugen an einen bislang unbekannten Ort. Etwa 150 Mitglieder und Sympathisanten Ost–Berliner Friedens– und Umweltgruppen hatten sich zuvor am Mittwoch gegen 18 Uhr nach einem kurzen Umzug vor der Zionskirche am Prenzlauer Berg versammelt, um gegen fünf Festnahmen der vergangenen Nacht zu protestieren. Von zahlreichen Volkspolizisten und Beamten der Staatssicherheit beäugt, die den Platz umstellt haben, jedoch vorerst nicht eingreifen, stehen die Versammelten abwartend und etwas ratlos in kleinen Gruppen auf dem dunklen Platz. Kein Rufen, keine Parolen. Das mitgeführte Transparent mit der Forderung nach Freilassung der Inhaftierten ist bereits wieder eingerollt. Gespräche werden wenig, und wenn, dann nur im Flüsterton geführt. Die Angst vor ungebetenen Zuhörern ist deutlich zu spüren. Dichtumringt von westlichen Journalisten und neugierigen Zuhörern berichtet Superintendant Krusche über sein Gespräch mit der DDR–Generalstaatsanwalt. Als die Scheinwerfer der Fernsehkameras abgeschaltet sind, drängen Umstehende auf eine deutlichere Stellungnahme der Kirchenleitung zu dem Übergriff der Staatsmacht. Unruhe entsteht, als eine Gruppe Volkspolizisten den Platz überquert und auf die Versammelten zugeht. Nach kurzem Wortwechsel erfolgt die Aufforderung, in die Kirche zu gehen. Drinnen löst sich die angstvolle Spannung. Fragen nach einer möglichen Vorwarnung in der vergangenen Woche und nach dem neuesten Stand der Dinge werden gestellt. Carlo Jordan von der Umweltbibliothek berichtet über den „Besuch“ Dr. Mußlers von der Abteilung Inne res des Magistrats, der am 18.November in Begleitung zweier Kriminalbeamter in der Umweltbibliothek erschienen war und sich nach der Genehmigung für die Herausgabe der Umweltblätter erkundigt hatte. Zusammenschluß kriminelle Vereinigung? Superintendant Krusche tritt noch einmal nach vorn und informiert die Versammelten über die „offizielle Version“ der Vorgänge: Die Durchsuchung der kirchlichen Räume sei aufgrund Paragraph 218 des DDR–Strafrechts erfolgt, worin der „Zusammenschluß zur Begehung strafbarer Handlungen“ mit Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren bedroht wird. Das Verfahren richte sich bisher gegen Unbekannt, es seien auch keine Verhaftungen erfolgt, sondern lediglich vorübergehende Festnahmen „zur Klärung eines Sachverhalts“. Einer der Mitgenomme nen, ein 14jähriger Schüler, sei bereits wieder auf freiem Fuß, die anderen würden möglicherweise bald nachfolgen. Die Darstellung, bei der Durchsuchung seien die neueste Ausgabe des Grenzfall, eines seit acht Monaten erscheinenden Alternativblatts, sowie sechs Vervielfältigungsapparate, darunter zwei fabrikneue Offset– Druckmaschinen, beschlagnahmt worden, ruft ungläubiges Staunen unter den Versammelten hervor. „Wo sollen die denn herkommen?“ ruft eine junge Frau in die Runde. Weitere Durchsuchungen und Festnahmen von Bekannten der Ost–Berliner Friedensszene werden bekannt. Ulrike und Gerd Poppe, Verena Wollenberg, Wolfgang Popow, Wolfgang Wolf, nahezu alle sind betroffen; bei Bärbel Bohley sei die Stasi gerade in der Wohnung. Immer deutlicher schält sich heraus, daß dies der von vielen phrophezeite Schlag der SED–Hardliner gegen sämtliche unabhängigen Gruppen und Bestrebungen ist. Daß dieser Schlag sich zuerst gegen die Umweltbibliothek richtete, ist nicht zufällig, denn diese Einrichtung unter dem Dach der Zionsgemeinde war im vergangenen Jahr immer mehr zum Zentrum der Ost–Berliner Ökopaxe geworden. Im September dieses Jahres nahm von dort die erste nicht–staatlich organisierte Friedensdemonstration ihren Ausgang, und am kommenden Wochenende soll in den Gemeinderäumen ein dreitägiger Öko–Kongreß mit Teilnehmern aus der DDR und anderen osteuropäischen Ländern stattfinden. Ob es dazu noch kommt, ist ungewiß. Die Diskussionbeiträge, die in dem hallenden Kirchenbau immer wieder von Kinderlärm übertönt werden, schwanken zwischen Hoffen auf ein baldiges Einlenken der Parteioberen und einer gewissen Endzeitstimmung. „Einen Rückfall in die fünfziger Jahre“ befürchtet der kritische DDR–Autor Lutz Rathenow. Jetzt sei nicht nur die Kirche, sondern beispielsweise auch der zur gleichen Zeit in Ost–Berlin tagende Schriftstellerkongreß gefordert, deutlich zu den Übergriffen Stellung zu nehmen. Doch Superintendant Krusche warnt vor übereiltem, unbedachten Vorgehen und will zuerst die Klärung der Vorwürfe abwarten. Wenn wirklich gegen Gesetze verstoßen worden sei, müsse man dies wohl hinnehmen. Schließlich wird eine gemeinsame „Öffentliche Erklärung“ von sechs unabhängigen Gruppen und Kirchenkreisen verlesen (s. nebenstehend), in der das widerrechtliche Eindringen der Staatsmacht in die Gemeinderäume verurteilt und die sofortige Freilassung aller Inhaftierten gefordert wird. Harald Drescher

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen