: Afghanistan will selbständig werden
■ Präsident Najibullah spricht über bedingten Rückzug von 115.000 sowjetischen Soldaten / Neue Verfassung verabschiedet Möglicherweise Weg frei für Koalitionsregierung / Angebot an Widerstandsgruppen, sich an der Regierung zu beteiligen
Kabul (wps/afp/dpa) - Ein hochrangiger sowjetischer Funktionär deutete an, daß Gorbatschow während des Gipfeltreffens nächste Woche in Washington „etwas zum Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan zu sagen habe“. Die Erwartungen an eine Wende in Afghanistan sind durch verschiedene sowjetische Äußerungen in den letzten Wochen gestiegen. Rechtzeitig zum Gipfeltreffen kündigte der am Montag neu gewählte Präsident Afghanistans, Najibullah, in seiner Antrittsrede einen bedingten Rückzug der 115.000 sowjetischen Soldaten an, die in Afghanistan stationiert sind. Er stehe mit der Sowjetunion darüber in Verhandlung. Der Truppenrückzug könne innerhalb von zwölf Monaten abgeschlossen sein, gegebenfalls auch früher, wenn die hauptsächlich von den USA unterstützten moslemischen Rebellen einem Waffenstillstand zustimmten. Sein Vorschlag soll bei der nächsten Genfer Gesprächsrunde zum Afghanistan– Konflikt zur Sprache kommen. Der Parteichef der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, Najibullah, war als einziger Präsidentschaftskandidat von der „Großen Versammlung“, die aus 1.500 Delegierten kommunistischer Organisationen und regimetreuer Stämme besteht, zum Präsidenten gewählt worden. Die „Große Versammlung“ hatte am Montag eine neue Verfassung verabschiedet, die den Weg für eine Koalitionsregierung freimachen und damit mittelfristig das Kriegende ermöglichen soll. Die Verfassung sieht die Ernennung einer Regierungschefs sowie die Bildung eines Ministerrates vor. Ferner soll im nächsten halben Jahr eine Nationalversammlung zusammentreten. Die Amtszeit des Präsidenten werde sieben Jahre betragen und könne eimal verlängert werden. Während der Tagung kam es wiederholt zu Anschlägen von Rebellengruppen. Laut Berichten westlicher Journalisten waren bereits am Sonntag zu Beginn der Ansprache Najibullahs vier Explosionen zu hören gewesen, die vermutlich von Raketeneinschlägen herrührten, Najibullah aber unbeeindruckt ließen. Nach Meinung westlicher Diplomaten in Kabul vertritt Najibullah die Position, die Gorbatschow auch auf dem Gipfeltreffen mit Reagan vertreten wird. Andere westliche Diplomaten dagegen äußerten sich skeptisch zu den Absichtserklärungen von Najibullah, da sich dieser in seiner Rede nicht dazu geäußert habe, wann der Abzug der sowjetischen Truppen beginnen solle. Außerdem sei sein Angebot daran gebunden, daß die Amerikaner die Rebellengruppen aufgeben. In den letzten sieben Jahren seit der Invasion der Sowjetunion in Afghanistan zahlten die USA und ihre Verbündeten, hauptsächlich Saudiarabien und Großbritanien, jährlich nahezu 600 Millionen US– Dollar an die Rebellen. Die meisten der von den USA finanzierten „Widerstandsgruppen“ sind eng dem Islam verbunden, oft fundamentalistisch orientiert und damit antikommunistisch. Unter Gorbatschow, der das Sowjet–Engagement in Afghanistan als „blutende Wunde“ bezeichnet hat, sind sich die Sowjets zunehmend des Dilemmas bewußt geworden, in das sie sich mit der Invasion in Afghanistan gestürzt haben: Die militärische Lage ist immer noch unentschieden. Die afghanische Regierung kann sich immer noch nicht auf eine breite Anhängerschaft im eigenen Lande stützen. Der Grundton der Antrittsrede von Najibullah und die neue Verfassung scheinen ein Versuch zu sein, die „Widerstandskämpfer“ in die Regierung miteinzubeziehen. So soll nach der neuen Verfassung der afghanische Staat nicht mehr „Demokratische Republik Afghanistan“, sondern nur noch „Republik Afghanistan“ heißen.
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