: Der lange Weg von Rußland nach Chile
■ Die Geschichte eines sehr speziellen „Modell Deutschlands“ mitten in Chile / Pietistische Sekte aus Rußland und den Ostgebieten wird zur Keimzelle eines totalen Staats en miniature / Ein Interview mit Helmut Frenz, ehemals Bischof in Santiago und Ex–Generalsekretär von amnesty intenational
In der deutschen Siedlung Colonia Dignidad im Süden Chiles leben an die 300 Menschen hinter doppeltem Stacheldrahtzaun, auf einem durch Lichtschranken und akustische Signalanlagen gesicherten Gelände. (siehe taz–Tagesthema vom 1.12.) Nur wenigen ist es gelungen, aus der Kolonie, wo der Sektenführer Paul Schäfer und seine Clique ein System von Terror und totaler Kontrolle errichtet haben, zu entfliehen. Aber ihre übereinstimmenden Aussagen lassen keine Zweifel zu: In der Colonia Dignidad werden Menschen gefoltert und mit Einsatz von Psychopharmaka seelisch gebrochen und zu willenlosen Automaten gemacht. Der deutsche Botschafter in Santiago, der Anfang November die Colonia Dignidad besucht hat, ist zur Zeit zum Rapport in Bonn. Zur Frage steht, ob die Bundesregierung nun endlich auf eine Schließung der Siedlung drängt. Der Skandal ist schon seit über zehn Jahren bekannt. 1977 hat „amnesty international“ eine Broschüre über die Colonia Dignidad herausgegeben. Von Folter, Gehirnwäsche und Freiheitsberaubung war die Rede. Helmut Frenz, damals Generalsekretär der Menschenrechtsorganisation, hat seit über einem Jahrzehnt immer wieder auf den Skandal Colonia Dignidad hingewiesen. Von 1964 bis 1970 war Frenz Gemeindepastor der evangelisch–lutherischen Kirche in Concepcion im Süden Chiles, dann Bischof in Santiago, bis er 1975 das Land verlassen mußte. Neun Jahre lang stand er anschließend der deutschen Sektion von „amnesty international“ vor. Heute ist er Studienleiter einer Tagungsstätte für entwicklungspolitische Fragen bei Hamburg. taz: Wie würden Sie die Gruppe um Schäfer einstufen? Als religiöse Sekte, als faschistische Gruppierung, als Verrückte? Welches Selbstverständnis hat diese Gruppe? Helmut Frenz: Sie hat ihren Ursprung in der baptistischen Kirche. Die Gründer der „Privaten Socialen Mission“, wie sie am Anfang hieß, waren Prediger und Pastoren der baptistischen Kirche. Sie haben am Anfang ganz sicher ehrliche und offene Absichten verfolgt. In der Nachkriegszeit - und die Colonia Dignidad ist ein fast typisches Produkt der Nachkriegszeit - flohen viele Flüchtlinge aus dem ehemaligen Ostpreußen und anderen Ostgebieten in den Westen, die meisten von ihnen Witwen oder Frauen mit Kindern, deren Männer im Krieg gefallen oder in Gefangenschaft waren und die hier im Westen Deutschlands in eine hoffnungslose Situation geraten sind. Im Osten hat es auch sehr viele pietistische Gruppen gegeben. Die sind teilweise von noch weiter her gekommen, aus dem Baltikum oder der Ukraine, Leute mit pietistischen, fundamentalistischen, politisch konservativen Ansichten. Sie wurden von diesen Baptistenpredigern aufgefangen, die in der chaotischen Situation nach dem Krieg bald ein sehr radikales Evangelium verkündet haben. Mit dem Kriegs– und Nachkriegschaos, glaubten sie, sei das Ende der Zeiten angebrochen und stehe das Jüngste Gericht nahe bevor. Einige würden dann gerettet werden, aber die meisten der Verdammung verfallen, und dann kommen Bilder wie Satan, Teufel, Hölle. Damit können einfache Gemüter wie diese Menschen aus konservativen fundamentalistischen Kreisen schnell in ihrer Gewissensfreiheit, ihrer Denkfreiheit und ihrer Entscheidungsfreiheit eingeschränkt werden. Am Anfang steht ganz klar die religi öse Unterdrückung der Gewissen. Es hat am Anfang keine faschistische Ideologie, sondern Religion gestanden und eine ganz spezielle fanatische Ausrichtung auf das nahe Ende. In einigen Gemeinden tauchte dann die Forderung auf, Vater und Mutter zu verlassen, immer mit Hinweis auf die Bibel, und da gibt es ja auch solche Sätze. Es ist bloß die Frage, wie die zu interpretieren und wie die heute zu verstehen sind. Ihr müßt Haus und Hof verlassen und euch ganz dem Herrn widmen, der nun bald auf den Wolken des Himmels kommen wird, um die Menschheit zu richten. So fanden sich dann Menschen zusammen, die eben für solche Predigten empfänglich sind. Da erst taucht Paul Schäfer auf - er war früher übrigens Jugendleiter einer evangelischen Gemeinde und wurde erst später Baptist. In Siegburg bei Bonn haben sie ein Gelände mit Gebäuden erworben und sich gesagt: Hier bilden wir eine neue Gemeinschaft, die sich von dieser Welt bereits zu lösen beginnt und sich ganz dem allmächtigen Gott und seinem Sohn Jesus Christus zuwenden wird. Am Anfang müssen da so etwa zwischen 120 und 150 Personen gestanden haben, teilweise Witwen mit ihren Kindern, teilweise Väter mit ihren Kindern, weil sich die Familien ja in der Phase vorher gespalten hatten, auch wenige ganze Familien. Zudem hat sich die „Private Sociale Mission“ auch von Anfang an als Waisenhaus ausgegeben. In diesem Getto, das sich dort gebildet hat, hat sich Paul Schäfer als der mächtigste Prediger mit dem größten Einfluß herauskristallisiert. Er wurde die Führungsperson und „Prophet“, der direkt in Kontakt mit Gott steht und von daher sein Wissen bezieht. Man kann also durchaus von einer Sekte sprechen. Und in diesem Stadium ist dann auch seine Homosexualität voll durchgeschlagen, er hat - abhängige - Kinder und Jugendliche mißbraucht. Da fängt das Verbrechen an. Wie ist denn das religiöse Selbstverständnis vereinbar mit Folter und Mißhandlungen von Menschen, die eine Schöpfung Gottes sind? Die gesamte Kirchengeschichte, insbesondere die Geschichte des Mittelalters, belegt, daß ein zu Fanatismus gesteigerter christlicher Glaube sich als absolutes Wissen versteht, das jeden, der sich nicht anpaßt in das Reich des Bösen stellt. Und dieses Reich des Bösen muß bekämpft und unterdrückt werden. Es ist das pervertierte, in Machtgelüste ausar tende Führungsprinzip. Ich will nicht behaupten, daß eine solche Entwicklung sich notwendig einstellen muß. Was ist denn heute in der Colonia Dignidad vom religiösen Selbstverständnis noch übrig geblieben? Nach den Aussagen von Hugo Baar, einem baptistischen Pastor, der einer der Mitgründer der Gruppe ist und vor zwei Jahren aus der Kolonie geflohen ist, ist von diesem religiösen Selbstverständnis noch einiges übriggeblieben. Zwar werden keine Gottesdienste mehr gefeiert, doch das religiöse Getto, in dem sie leben, ist der Humus, auf dem das ganze weitere Kontrollsystem aufgebaut wird, in dem die Gewissen dieser Menschen geknebelt und unterdrückt werden. Das läuft dann so: Wenn du Briefe an deine Familie in der Bundesrepublik schreiben willst, mußt du sie mitlesen lassen. Denn vielleicht gibt dir ja der Teufel ein, etwas mitzuteilen, was die Wiederkunft Jesus Christi verhindert. Hat die Colonia Dignidad eine politische Zielsetzung, ähnlich etwa wie die Mun–Sekte, die einen weltweiten antikommunistischen Kreuzzug propagiert? Ja, auch wenn die Colonia Dignidad anders als die Mun–Sekte auf sich selbst beschränkt ist. Sie betreibt keine Mission, allenfalls ist sie auf der Suche nach Kindern und Jugendlichen, die sie aufnehmen, adoptieren und integrieren kann. Den Führern reicht diese Gruppe von 300 Personen, die ihnen hörig ist, ihnen in jeder Hinsicht zu Diensten steht und ihnen Wohlstand, Reichtum und Macht garantiert. Sie haben ein sehr antikommunistisches Engagement an den Tag gelegt. Wir wissen, daß sie schon in der Zeit Allendes (1970 bis 1973) die rechtsextreme chilenische Organisation „Patria y Libertad“ auf ihrem Gelände und in ihren Gebäuden tagen ließen. Ich weiß, daß ein bekanntes Mitglied dieser Gruppe, Roberto Thieme, ein Pilot deutscher Abstammung, wenige Wochen vor dem Militärputsch vom 11. September 1973 den Oberst Wiloughby, der gleich nach dem Putsch dann Pinochets persönlicher Adjutant wurde, in die Colonia Dignidad geflogen hat, um ihm eine Waffenausstellung zu zeigen. Diese Ausstellung hatte die Führung der Siedlung organisiert, um den Militärs zu sagen: Wir sind auf den Tag X vorbereitet. Dieser Antikommunismus geht Hand in Hand mit dem konservativen fundamentalistischen Glauben. Der Marxismus oder Kommunismus wird dann sehr schnell mit dem Antichristen identifiziert, der das Kommen Gottes verhindern will. Da gibt es erst einmal den Anführer dieser Gruppe, den Propheten, Paul Schäfer also, der vor allen Dingen durch Predigt, durch Beichte und durch religiöse Zeremonien seinen Druck auf die Leute ausübt. Nicht unbedingt unter ihm, eher neben ihm gibt es eine Führungsclique. Da ist vor allen Dingen eine Ärztin, Frau Doktor Seewald, die über die medizinische Schiene die Unterdrückung organisiert. Wer aufmüpfig wird oder gar Kritik ausspricht, wird als krank angesehen und unter ihren Händen und Apparaten mit Psychofolter und Psychopharmaka behandelt. Wir haben schlimme Aussagen darüber. Dann gibt es den Mann der Frau Doktor Seewald, der von Haus aus Pädagoge ist und den Schulsektor organisiert. Dann gibt es den ehemaligen Luftwaffenoffizier Hermann Schmidt, dem der Verwaltungsapparat untersteht, und der das Geld, die Pässe, die Renten, die überwiesen werden, verwaltet. Die führenden Köpfe der Kolonie bilden den sogenannten „Herrenabend“, der sich in regelmäßigen Abständen trifft oder nach Bedarf einberufen wird. Dort werden die Beschlüsse gefaßt, vor allem was Strafmaßnahmen gegen Personen betrifft, die Kritik geübt haben oder auffällig geworden sind, Jungs etwa, die angefangen haben, mit einem Mädchen anzubändeln. Das sexuelle Gebiet ist ja tabu und ist zu einem Gebiet des Teufels erklärt worden, offenbar mit Ausnahme der homosexuellen Beziehungen, die Paul Schäfer mit seinen Jugendlichen weiterhin praktiziert. Innerhalb dieser Gemeinschaft gibt es nun eine ganze Reihe von Menschen, die sich diesem Druck anpassen und mitmachen. Sie kriegen gut zu essen, sie kriegen eine Ausbildung, sie kriegen eine trockene Schlafstatt und warme Kleidung, auch wenn die furchtbar altmodisch ist. Was sie nicht kriegen, ist die Vermittlung der spanischen Sprache. Sie sprechen also alle deutsch, und wenn einer das Lager verläßt, kann er sich kaum verständigen, er hat zudem kein Geld und keine Papiere in den Händen. Die Leute leben also in mindestens dreifacher Hinsicht in Gefangenschaft: Es gibt ein durch Stacheldraht, Lichtschranken und akustische Kontrollen gesichertes äußeres Konzentrationslager, dann gibt es die Gefangenschaft durch den religiösen Druck und dann noch die organisatorische Gefangenschaft: kein Geld, kein Paß. Wann haben Sie das erste Mal von der Colonia Dignidad gehört? Als ich 1964 nach Concepcion kam, lag die Kolonie innerhalb meiner kirchlichen Gemeinde. Ich habe sie dann 1967 besucht. Damals kamen die ersten Gerüchte auf. Da war Wolfgang Müller gerade geflohen. Ich hatte zwar davon gehört, aber es rumorte ja damals noch nicht so wie heute. Ich habe da also einen Besuch gemacht. Ich bin von der Frau des Verwaltungsleiters empfangen worden, die mich dann herumgeführt hat. Ich wurde freundlich bewirtet. Zum Abschied haben sie mir ein Gästebuch vorgelegt. Da habe ich dann irgendeinen Spruch reingeschrieben. So etwa: Vielen Dank für die freundliche Bewirtung und viel Kraft für ihr Leben hier in Chile. Das war 1967. Und heute kommen dann Leute aus der CSU, wie etwa der Sprecher des Münchner Stadtrates, Vogelsang, das erste, was der aus der Tasche zieht, ist dann eine Fotokopie aus dem Gästebuch. Natürlich war ich damals blauäugig. Ich konnte damals auch nicht die Dimensionen erahnen. Leuten, die ohne Vorkenntnisse dort hingehen, wird auch heute noch eine Show vorgeführt. Es ist wirklich alles sehr ordentlich, sehr sauber, teilweise sehr schön, Blumen, Weinlauben, lieblich, freundlich, deutsch. Dies der äußere Augenschein. Wer nun aber heute hinfährt mit einer CSU–Delegation oder mit der Hanns–Seidel–Stiftung hat Vorkenntnisse und weiß einiges mehr. Nach der Flucht von Wolfgang Müller und Wilhelmine Lindemann 1966 kam die Colonia Dignidad in die Schlagzeilen der chilenischen Presse. Von Terror und totalitärer Kontrolle war die Rede. Weshalb hat die Linksregierung von Allende mit der Siedlung nicht aufgeräumt? Ich kann mir das nur so erklären, daß man wichtigere Dinge zu tun hatte, als die Colonia Dignidad zu unteruchen, zumal in der Zeit davor ja eigentlich Ruhe um die Kolonie geherrscht hat. Möglicherweise hatte die Colonia Dignidad auch im Beamtenapparat, der ja bei einem Regierungswechsel nicht immer automatisch ausgewechselt wird, Helfershelfer, die gar kein Interesse hatten, dieses Thema aufs Tapet zu bringen. Der deutsche Botschafter in Santiago hat die Colonia vor wenigen Wochen besucht und ist zum Rapport in Bonn. Weshalb bewegt sich nun doch plötzlich was in der Sache? Die Colonia hat ja 1977 auf Unterlassung der von uns aufgestellten Behauptungen geklagt. Sie hat nicht auf Widerruf geklagt, sonst hätte sie die Beweislast gehabt. Es gab dann 1978 eine einstweilige Verfügung. Wir haben dagegen Widerspruch eingelegt. Seither läuft der Prozeß. Nachdem dann unsere Zeugen vor dem Bonner Landgericht angehört worden waren, wollte das Gericht ursprünglich einen Lokaltermin in Chile durchführen. Das war nach der rechtlichen Lage nicht möglich. Da wurde dann der Weg eines Rechtshilfeersuchens gewählt, das heißt also, daß bestimmte Zeugen in Chile im Auftrag des Bonner Landgerichts vernommen werden sollten. Das Rechtshilfeersuchen ist genehmigt worden. Unsere Anwälte sind benannt worden. Und wir haben den Fall so auch nach Chile getragen. Das ist der zündende Funke, warum es nun hochgeht. Im April dieses Jahres wurden unsere Anwälte in Chile tätig. Die Presse hat über den Fall berichtet, und unsere ersten Zeugen in Chile sind nun vernommen worden. Das waren hochrangige Vertreter der katholischen Kirche, einer unserer Anwälte ist Maximo Pacheco, ein führender Christdemokrat. Und als dann Herr Blüm und Herr Geißler da rübergefahren sind, wurden sie auch mit hineingezogen. Geflohene Sektenmitglieder sollen vor einem Massenselbstmord gewarnt haben, den Paul Schäfer anordnen und erzwingen könnte. Halten Sie einen Massenselbstmord für möglich? Ich kann mir vorstellen, daß Paul Schäfer, wenn er nun in die Ecke gedrängt wird und nicht weiter kann, den Tod der gesamten Organisation sucht und anordnet und mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, auch durchsetzt. Ich kann das aufgrund des gesamten Klimas, aufgrund des Systems und aufgrund all der gebrochenen Persönlichkeiten, die da leben, nicht ausschließen. Wer 30 Jahre in der Colonia Dignidad lebt, ist eine gebrochene Persönlichkeit. Ich fürchte nun andererseits, daß man das Problem Colonia Dignidad auf das Problem Paul Schäfer reduzieren will, daß man dann Paul Schäfer entmachten will, ihn festnimmt, ausliefert, oder was auch immer. Doch das wäre zu kurz gegriffen. Da hängen diejenigen Personen, die ich vorhin genannt habe, viel zu tief drin in diesem System von Unterdrückung, Folter, Mißhandlung, als daß man sie ungeschoren lassen und als Opfer von Paul Schäfer hinstellen könnte. Interview: Thomas Schmid
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