Mafiosi verurteilt - die Mafia mordet weiter

■ „Historische“ Urteile gegen Mafia–Bosse und Mafia–Killer in Palermo / 19mal Lebenslänglich, über 3.000 Jahre Gefängnis, 114 Freisprüche für 462 Angeklagte / Auch über den Mord am Anti–Mafia–Präfekten dalla Chiesa und seiner Frau wurde verhandelt

Aus Palermo Werner Raith

Das Urteil im „historischen“ Mafia–Prozeß ist gefallen: 19mal Lebenslänglich, Freiheitsstrafen von über 3.000 Jahren Gefängnis für insgesamt 462 Angeklagte, von denen 114 freigesprochen wurden, meist aus Mangel an Beweisen. Unter den zu „Lebenslänglich“ Verurteilten ist auch der Mafia–“Papst“ Michele Greco. Ihm ist zwar an keinem Mord direkte Tatbeteiligung nachzuweisen, er wird jedoch vom Gericht für 78 Morde verantwortlich gemacht. Denn, und das ist neu für Italien, das Gericht geht mit diesem Schuldspruch davon aus, daß in der Mafia als streng hierarchisch aufgebauter Organisation nichts ohne die Billigung der Führung geschehe. Wie alle Mitglieder des Gerichtshofes ist Kammerpräsident Alfonso Giordano bei der Urteilsverkündung sichtlich übermüdet nach 35 Beratungstagen hinter hermetisch verschlossenen Türen (dem Vorsitzenden und seinem Beisitzer ist in dieser Zeit ein prächtiger Schnauzer gewachsen). Aus den 32 Käfigen mit den Angeklagten dringt nicht ein Ruf, nicht ein Kommentar zu den Urteilen - weder Erleichterung bei den gut zwei Dutzend Freisprüchen, noch Unmut bei den 19 Lebenslänglich und den vielen jahrzehntelangen Haftstrafen für 90 Morde und ein paartausend andere Gewalttaten. Gespenstisch fast, so, als ginge all das niemanden im Saal etwas an. Ein merkwürdiger Gegensatz: die überwiegend kaugummikauenden scheinbar gleichgültigen Angeklagten, und die Zuschauer und Presseleute, die man unmittelbar danach draußen erlebt (die meisten, längst überdrüssig des zweitägigen Wartens auf das Urteil, saßen sowieso schon vor bequemen Fernsehgeräten und nicht mehr im Saal des „Aula–Bunkers“ neben dem Zuchthaus Ucciardone). Je mehr Kreuzchen, fast nach Fußballreportermanier, die Journalisten in die Rubrik „ergastolo“, Lebenslänglich auf ihren vorbereiteten Namenslisten eintragen, umso wuchtiger werden die Kommentare: „historisch“ ist noch die gemäßigste Vokabel, die den Reportern und den sofort um sie gescharten und befragten Experten einfällt: „die legendäre cupola, das Leitungsorgan der Mafia enthauptet“, schwärmt der Berichterstatter des staatlichen Fernsehens RAI, und der Kollege von der Times will seinem Bericht mit „Die Mafia nach zwei Jahren Verhandlungsdauer am Boden zerstört“ aufmachen. Kronzeugen und Kronzeugenrabatt Kein Zweifel, daß die Summierung der Strafen beeindruckend ist; kein Zweifel auch, daß hier erstmals in einem Gerichtsverfahren nicht einzelne Delikte, sondern das Gesamtphänomen Mafia aufgerollt wurde und konsequent neben den Killern (vor allem die besonders brutalen Mitglieder der Familie Marchese) auch die „Ehrenwerten Herren“ der obersten Mafiahierarchie wie der „Papst“ Michele Greco verurteilt wurden. Möglich war das alles, weil der Justiz ein paar große und zahlreiche kleine aussagewillige Zeugen zur Verfügung standen, wie man sie noch nie hatte: allen voran Tommaso Buscetta. Zu Beginn der 80er Jahre selbst einer der ganz Großen im Mafiageschäft, hatte er sich nach seiner Verhaftung 1984 in Brasilien der Anklage zur Verfügung gestellt, nachdem in den Bandenkriegen der verganenen Jahre sein Clan und seine Verbündeten regelrecht zusammengeschossen worden waren; mehr als zwei Dutzend enge Verwandte hat er dabei verloren. Versäumnisse Für die Justiz natürlich ein Himmelsgeschenk; ungern freilich spricht man bis heute davon, daß man der Mafia faktisch nur mit Hilfe eines Massenmörders zuzusetzen verstanden hatte - Buscetta ist für mehrere Dutzend Morde verantwortlich und gilt als Erfinder der „lupara bianca“, der „rückstandlosen“ Beseitigung von Menschen in Betonpfeilern oder Säurebädern. Ungern auch ist in Palermos und Roms Justiz die Rede von der Überforderung der Richter in einem derartigen Monsterprozeß - zwei Berufs– und fünf Laienrichter sollen mehr als 450 Menschen beurteilen, und jedem davon werden Dutzende von Einzeltaten zur Last gelegt. Ein Unterfangen, das auch der Rechtspflege nur unter Einsatz modernster Hilfsmittel lösbar schien, etwa einem Computerterminal, auf dem der Vorsitzendes jede der mehr als 8.500 Seiten Anklageschrift und der 400.000 Seiten Ermittlungsakten abrufen konnte. Und doch kam es während der Verhandlungen ständig zu Verwechslungen und Fehlleistungen (einmal wäre der Prozeß beinahe geplatzt, weil dem übermüdeten Vorsitzenden einiges durcheinander kam) - Vorgänge, die die Rechtmäßigkeit der Urteile von vornherein ins Zwielicht bringen. Und ungern auch kommt man nur darauf zu sprechen, daß man die zahlreichen Verdachte von Verwicklungen hoher römischer und sizilianischer Politiker in MafiaAffären (bis hin zum Außenminister Andreotti) in diesem Prozeß nicht hinreichend verfolgt hat. Dennoch: Für die meisten Ma fia–Experten zählt weniger die konkrete Strafzumessung als wichtigstes Ergebnis, sondern eher die Tatsahe, daß der Prozeß überhaupt bis zu Ende gebracht werden konnte. Ein Vorgang, der noch wenige Jahre zuvor unmöglich erschien, waren doch bis dahin alle Ansätze für strafrechtliche Verfolgung selbst brutalster Mafia–Verbrechen stets im Sande verlaufen, mal durch vorzeitige Einstellung, mal durch Versetzung von Ermittlern oder Richtern, mal auch durch die Ermordung von Fahndern. Tatsächlich stand im Mittelpunkt des Prozesses auch eines der spektakulärsten Verbrechen der Mafia, die Ermordung des Präfekten und Carabinie ri–Generals dalla Chiesa mit seiner Frau und dem Eskortebeamten 1982. Daß das Gericht nun offensichtlich - die schriftliche Begründung folgt erst in einem halben Jahr, mündliche Urteilsbegründungen gibt es in Italien nicht - den Aussagen des im Kreuzverhör scharf angegriffenen „Kronzeugen“ Tommaso Buscetta und seiner aussagewilligen Kollegen folgte (und ihnen „Kronzeugenrabatt“ gab, Buscetta bekam nur drei Jahre), erscheint in den meisten Kommentaren ebenfalls als Meilenstein in der Geschichte des Anti–Mafia–Kampfes. Bisher war es Mafiosi stets gelungen, eventuelle „Aussteiger“ entweder während ihrer Aussagen vor Gericht massiv zu erschüttern (bis hin zum Rückzug) oder das Gericht auf diese oder jene Weise von der Unglaubwürdigkeit mafioser Überläufer zu überzeugen. Sechs Mafia–Morde in den letzten Tagen So ganz zufrieden mochte sich am Abend freilich auch Chefankläger Guiseppe Ayala nicht geben, obwohl das Gericht doch fast drei Vierteln seiner 28 Anträge auf Lebenslänglich entsprochen hatte. Deutlich steckt ihm in den Knochen, daß es in den vergangenen Tagen in Palermo nicht weniger als ein halbes Dutzend MafiaMorde gegeben hatte - der Waffenstillstand vor Prozeßbeginn 1986, der das Aufsehen um das Verfahren beruhigen sollte, ist längst zu Ende, die Clans ermorden Rivalen und zahlungsunwillige Geschäftsleute, als habe es nie einen Prozeß gegeben. Und, noch spektakulärer: Just am Tag vor der Urteilsverkündung hat eine eng mit den palermitanischen Clans zusammenarbeitende Gang in Messina neben drei anderen Männern auch eine „hochangesehene Leiche“ vor die Tür gelegt - den Schwager und sizilianischen Sachwalter des New Yorker Gouverneurs Mario Cuomo. Eine aus der Mafiageschichte sattsam bekannte Art der Kampfansage gegen den Staat, wenn dieser Entwicklungen vorantreibt, die die „ehrenwerte Gesellschaft“ nicht wünscht. Der Staatsanwalt könnte mit seiner Skepsis recht behalten: Noch in der Nacht kommt die Meldung, daß eine Stunde nach Urteilsverlesung einer der aus Beweismangel freigesprochenen Angeklagten ermordet wurde. Der Clankrieg geht weiter - und in „Schuldige“ und „Unschuldige“ spalten lassen will sich die Mafia schon gar nicht.