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Mitteleuropa auf der Suche nach sich selbst

■ Budapest war für ein Wochenende die Hauptstadt Europas: Intellektuelle und Initiativen aus Ost und West diskutierten Gorbatschow und die Identität Mitteleuropas

Von Frank Herterich

Der Ort war nicht ohne Tradition. Auf der Pester Seite der Donau, unweit der Margarethen–Brücke, im früheren Viertel des jüdischen Bildungsbürgertums inmitten zurückhaltender Bauhausarchitektur gelegen, hatte er Ende der 30er bis in die 40er Jahre hinein jüdischen Künstlern, denen die offiziellen Bühnen Budapests verwehrt waren, zum Auftritt gedient. Unter veränderten Bedingungen diente das heutige Auditorium einer Musikschule am vorletzten Novemberwochenende als Ausweichquartier für ein internationales Seminar, zu dem Studenten der Eötvos Lorand Universität gemeinsam mit dem Europäischen Netzwerk für den Ost– West–Dialog eingeladen hatten. Zum Thema „Gorbatschows Reform und europäische Perspektiven“ fanden sich 120 Teilnehmer aus 17 Ländern Ost– und Westeuropas sowie aus den USA ein. Da hatte sich - ein seltener Fall - so gut wie das gesamte Spektrum der ungarischen Opposition versammelt. Da waren die Ökologen vom „Donaukreis“ und die sich um die ungarische Identität mühenden „Populisten“. Aus der CSSR hatten die am Reisen gehinderten Exponenten des Prager Frühlings und der Charta 77, Jaroslav Sabata und Jiri Dienstbier schriftliche Beiträge übermittelt. Aus Polen war die Gruppe „Freiheit und Frieden“ vertreten, die im Frühjahr ein ähnliches Treffen in Warschau organisiert hatte. Aus Ost–Berlin war eine Mitarbeiterin der Umweltbibliotek gekommen. Aus dem Westen u.a. Mary Kaldor und Mient Jan Faber von der END–Bewegung, Pierre Hassner von den französischen Sozialisten, Vertreter der italienischen Kommunisten und Sozialisten und die Bundestagsabgeordneten Gert Weiskirchen und Helmuth Lippelt von der SPD, beziehungsweise den Grünen. Bis zur letzten Minute war die unabhängige Durchführung des Seminars in Frage gestellt. Als die Teilnehmer schließlich die vorsichtshalber angemietete Musik schule in einer Armada von Taxis ansteuerten, war ein Erfolg bereits erzielt: Die Konferenz fand in einem öffentlichen Ort statt und die Autonomie der Veranstaltung war verteidigt worden. „Gerade um diese Eigenständigkeit geht es uns“, erklärte einer der veranstaltenden Studenten. „Dazwischen“ nannte Csaba Kiss Gy von den ungarischen „Populisten“ seinen Beitrag. Er erinnerte an das Abspielen der tschechoslowakischen Hymnen bei offiziellen Anlässen: Zuerst die tschechische, dann die slowakische Hymne, während die Mähren die kurze Pause dazwischen als ihre Hymne betrachteten. „Diese Stille dazwischen ist meine Heimat, das ist das Mittel– oder eben Zwischen–Europa.“ Kontroversen um Gorbatschow Über die Aussichten von Perestroika und Glasnost entbrannte gleich zu Beginn der Konferenz eine freundlich aber deutlich ausgetragene Kontroverse. Entschieden pessimistisch äußerten sich der Pariser Philosoph Cornelius Castoriadis und Mihaly Vajda. Eine über sechs Jahrhunderte autoritär formierte Gesellschaft könne sich nicht umstandslos aus ihrer Apathie lösen, auch nicht - so Castoriadis - wenn die Anordnung von oben diesmal laute: „Seid spontan!“ Damit fehle der Reformpolitik neben klaren Zielen der gesellschaftliche Träger. Ihr entgegen stünde die in Unbeweglichkeit erstarrte Bürokratie. Mihaly Vajda sekundierte: Vielen Menschen Mitteleuropas sei nicht nur das sowjetische System unheimlich, sondern auch die russische Gesellschaft. Möglicherweise bleibe ein wenig „neue ökonomische Politik“, aber jede ernsthafte Einführung von Marktmechanismen führe zu vom System nicht tolerierbaren wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Christian Semler aus der BRD reklamierte unter Verweis auf sich verschiedentlich bildende Clubs und Komitees, daß auch in der Sowjetunion gesellschaftliche Entwicklungen sattfänden, die nicht vom Staat moderiert würden. Ähnliche Ansichten, verbunden mit dem Appell, die unabhängigen gesellschaftlichen Aktivitäten zu verstärken, wurden auch aus den Reihen östlicher Basisinitiativen geäußert. In diese Richtung drängte auch Jaroslav Sabata aus Brünn. Nach der Devise: „Ob das Reformvehikel einen Motor hat oder nicht, wir müssen so tun, als hätte es einen“, plädiert er dafür, die Autoritäten beim Reform– Wort zu nehmen und sie mit Forderungen und Vorschlägen zu traktieren. Auch Castoriadis wollte die osteuropäischen Gesellschaften nicht auf Abwarten und Untätigkeit festlegen. Nur, sollte sich die sowjetische Gesellschaft wider alle Erwartung ernsthaft in Bewegung setzen, dann werde sie sich in ihren Aspirationen und Forderungen kaum auf den von oben gesteckten Reformrahmen beschränken lassen. Castoriadis: „Unter allen industrialisierten Staaten der Welt ist die Sowjetunion am reifsten für die Revolution.“ Yalta und Breschnews Doktrin „Die Metaphern für Europa sind vorhanden, das politische Be wußtsein dagegen nicht“, - so kam György Konrad auf das von ihm und Milan Kundera vor einigen Jahren angeschlagene Thema zu sprechen. In dem Spannungsfeld zwischen ziviler Gesellschaft und dem Verfall des gesamten gesellschaftlichen Zusammenhangs zeichne sich kein fundamentaler Umschwung ab. In West– wie Osteuropa seien alle in ihren kleinlichen nationalen Problemen gefangen. Die Westeuropäer seien zu unselbständig und zu schwach, um die Sowjetunion ernsthaft und genau zu fragen, was der Preis für die Freiheit Osteuropas sei, lautet seine leicht melancholische Diagnose. Yalta werde auch in Zu kunft auf dem Kontinent lasten, während Osteuropa möglicherweise auf das Niveau der Dritten Welt absinke. Janos Kis analysierte die wirtschaftliche Abhängigkeit Ungarns und Osteuropas vom Westen. Angesichts der Rückständigkeit der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen des Ostens im Vergleich zu denen des Westens verschärfte die Ost–West–Kooperation die Krise in den Ländern des Ostblocks. Seine Schlußfolgerung: Eine Modernisierung der Strukturen Osteuropas müsse diese zunächst denen Westeuropas kompatibel machen. Die Warschauer - Pakt– Staaten sollten sich auf eine Men schenrechtskonvention verpflichten, vergleichbar der der Europäischen Gemeinschaft, und einen supranationalen Gerichtshof einrichten, in Analogie zum Europäischen Gerichtshof. Krieg und Frieden Das Recht auf Wehrdienstverweigerung war das Thema des zweiten Tages. Vor allem „Graswurzel“– Initiativen und Betroffene berichteten. So wurde der Fall des inhaftierten Verweigerers Zsolt Keszthelyi dargestellt oder auch der von Laszlo Rusai, der verhaftet worden war, weil er ein Emblem des ungarischen Freiheitshelden Kossuth trug. Miklos Barabas vom ungarischen Friedensrat sagte, daß in Partei und Regierung über die Verankerung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung beraten werde. In der polnischen Opposition, so Jacek Czaputowicz von der Gruppe „Frieden und Freiheit“, habe man sich lange um das Problem der Armee herumgedrückt. Für die junge Nach–Solidarnosc– Generation aber sei dies zu einer der politischen Kernfragen geworden. Die Forderungen seien heute: Erstens, die Kürzung des Militäretats, zweitens die Verkleinerung der Armee durch Reduzierung der Wehrdienstzeit, und nicht lediglich die Reduzierung der Waffen, sowie drittens die Verankerung des Grundrechts auf Wehrdienstverweigerung. Auf diese gemeinsamen Ziele habe man sich auch mit der Charta 77 verständigt sowie auf die Perspektive der Auflösung von Warschauer Pakt und NATO, des Abzugs aller ausländischen Truppen von den Territorien der europäischen Länder und letztlich der Integration Gesamteuropas. Mient Jan Faber vom holländischen Friedensrat stellte die These auf, daß die Friedensbewegung ihre Identität bisher durch ihre Gegner und die konkreten Nahziele gefunden habe. Jetzt müsse sie zu gemeinsamen Werten und Zielen finden. So sehr sich westliche und östliche Oppositionelle in ihrer politischen Außenseiterrolle nahestehen, so wurden in der folgenden Diskussion über Werte und Ziele einer gesamteuropäischen Friedens– und Menschenrechtsbewegung doch Unterschiede sichtbar. Den Wert, den die meisten Mitteleuropäer mit dem Begriff der „zivilen Gesellschaft“ verbinden, zielt auf die Gesamtheit der Gesellschft und deren Emanzipation von staatlicher Bevormundung. Für sie ist das in dieser Hinsicht erreichte Niveau westlicher Gesellschaften ein nicht zu verachtender Fortschritt. Westliche Sprecher haben demgegenüber meist die Festigung und Stärkung ihrer „Bewegungen“ im Sinn, die nicht selten für ein irgendwie als „progressiv“ gedachtes Lager am Rande der Gesellschaft stehen.

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