Blitzverfahren in den besetzten Gebieten

■ Bis zu hundert Palästinenser werden täglich abgeurteilt / Geld– oder Haftstrafen bis zu zwei Jahren / Rechtsanwälte boykottieren die Schnellverfahren / 160 Reservisten verweigern Beteiligung an „Unterdrückungsmaßnahmen“ in der Westbank und dem Gaza–Streifen

Aus Tel Aviv Amos Wollin

„An diesem Wochenende wird der Gründung von Fatah gedacht. Aber erst der Dezember–Aufstand vor Weihnachten war der Geburtstag eines Palästinenserstaates“. Der arabische Kunde in einer Bäckerei in Bethlehem spielte damit auf den Gründungstag der größten Palästinenserorganisation im Dachverband der PLO vor nunmehr 23 Jahren an. Ob sich jedoch der Aufstand der vor allem jugendlichen Bevölkerung in den israelisch besetzten Gebieten, der Westbank und dem Gaza–Streifen als ein Baustein auf dem Weg zu einem Palästinenserstaat erweisen wird, bleibt abzuwarten. Trotz der scharfen ausländischen Kritik an Israels Vorgehen gegenüber den Palästinensern hat die Regierung bislang nicht von ihrer Politik der „eisernen Faust“ Abstand genommen und politische Alternativen geprüft. Das Kabinett befaßt sich vorrangig mit taktischen Fragen: mit welchen gewaltsamen Mitteln neue Aufstände verhindert oder unterdrückt werden sollen. Solange von „Sicherheitsproblemen“ und „militärischen Maßnahmen“ die Rede ist, können sich die beiden großen Koalitionspartner, der Likud–Block und die Arbeiterpartei, leicht auf Kompromisse einigen. Einer politischen Auseinandersetzung geht man einstweilen aus dem Weg, damit nicht nur die Regierung der „Nationalen Einheit“ erhalten bleibt. Und die letztendliche Instanz, die US–Administration, hat bisher nichts unternommen, was eine Änderung einleiten könnte, obschon man in Washington und London bemüht ist, das „Momentum des Friedensprozesses“ erneut ins Gespräch zu bringen. Zur „eisernen Faust“ in den besetzten Gebieten zählen derzeit vor allem die Blitzverfahren gegen die vielen hundert festgenom menen, zumeist jungen Palästinenser. Ihnen wird zur Last gelegt, an den Protestaktionen der letzten Wochen teilgenommen zu haben. Großangelegte Verhaftungswellen, Schnellverfahren, die über volljährigen Gefangenen schwebende Drohung der Deportation sowie „administrative Haft“ ohne Gerichtsverfahren bis zu einer Dauer von sechs Monaten sollen nun für „Ruhe“ sorgen und die Bevölkerung der Westbank und des Gaza–Streifens vor einem neuen Aufstand zurückschrecken lassen. Doch die Strafaktionen gegen die Palästinenser haben bereits eine neue Form des Widerstandes hervorgerufen. Die Anwälte, die normalerweise Palästinenser vor Gericht verteidigen, traten in einen „Streik“ und boykottieren die Schnellverfahren gegen ihre Mandanten. Im Gaza–Streifen dauert diese ungewöhnliche Protestform bereits seit zehn Tagen an. In den Augen der Anwälte stellen die Schnellverfahren eine „Rechtsverdrehung“ dar. „Wenn wir uns an diesen illegalen und demütigenden Fließband–Aktionen beteiligen würden, gäben wir solchen gesetzwidrigen Prozeduren die von Israel ersehnte Legitimität“, begründete der Ostjerusalemer Anwalt Jawad Boulos diese Haltung. „In den meisten Fällen haben wir Verteidiger noch nicht mal die Möglichkeit, unsere Klienten vor der Verhandlung zu sehen, weil wir sie in den vielen alten und neuen Gefangenenlagern gar nicht finden können“. Für den Brigadegeneral und Oberstaatsanwalt des Militärs, Amnon Straschnov, liegen die Blitzverfahren dagegen im Interesse der Angeklagten, die sonst lange auf ihre Verhandlungen warten müßten. Auch ohne Anwesenheit der Verteidiger werden täglich bis zu hundert Personen abgeurteilt. In den meisten Fällen handelt es sich um 15– bis 17jährige, die zu Geld– oder Haftstrafen bis zu zwei Jahren verurteilt werden. Die Politik der „eisernen Faust“ hat nun auch wieder die Opposition ihren Kopf heben lassen. So haben 160 Reserveoffiziere und Soldaten angekündigt, daß sie nicht an „Unterdrückungsmaßnahmen“ in den besetzten Gebieten mitwirken wollen. „Wir sehen uns nicht in der Lage, die Mitverantwortung für diesen moralischen und politischen Verfall Israels zu tragen“, heißt es einem Schreiben der Verweigerer. Doch einer der Führer von „Jesh Gvul“ (etwa: Alles hat eine Grenze), der Psychologe Ishaj Menuhin aus Jerusalem, meinte zu der von seiner Gruppe initiierten Aktion: „Erst wenn 10.000 Reserveoffiziere und Soldaten erklären, daß sie sich nicht länger an der Besatzung beteiligen, wird die Regierung gezwungen sein, eine realistische politische Lösung vorzuschlagen“.