: Windscales Mängel schon vor Unfall bekannt
Der Kraftwerksmanager informierte den britischen Premier bereits Monate vor dem Reaktorbrand von 1957 über Sicherheitsbedenken / Sparsamkeit zwang zu Fehlern / Der für den Reaktor von „Calder Hall“ Verantwortliche wurde wegen Gewissenhaftigkeit gefeuert ■ Aus London Rolf Paasch
Bereits zwei Monate vor dem Reaktorbrand von Windscale war der damalige britische Premierminister Harold Macmillan auf schwerwiegende Betriebsmängel der Atomanlage hingewiesen worden. In einem Brief an die britische Zeitung „Daily Telegraph“ schrieb jetzt am Mittwoch der damals für das Kernkraftwerk „Calder Hall“ verantwortliche Kraftwerkschef, er habe Macmillan bereits im August 1957 auf eine Serie von Zwischenfällen bei der Be treibung der Atomreaktoren aufmerksam gemacht. Am vergangenen Freitag waren in London 30 Jahre alte Geheimdokumente veröffentlicht worden, aus denen hervorgeht, daß Macmillan im November 1957 nach dem Brand in einem der beiden militärischen Reaktoren einen kritischen Bericht über Ursache und Ausmaß der Katastrophe zurückgehalten hatte und an dessen Stelle eine wesentlich entschärfte Fassung erarbeiten ließ. Die neuen Enthüllungen des heute 70jährigen Kraftwerksmanagers Lewis Stretch be treffen dagegen vor allem die anfängliche Operationsphase des gleich neben dem Unglücksreaktor stehenden Atomkraftwerks „Calder Hall“. Dieser Reaktor war 1956 von der Queen als angeblich erstes ziviles Kernkraftwerk eröffnet worden, obwohl auch hier – wie sich seitdem herausgestellt hat – ebenfalls in erster Linie Plutonium für britische Atomwaffen produziert wurde. Damals, so berichtet nun der ehemalige Kraftwerksmanager, habe ihn die britische Atomenergiebehörde (AEA) zu Einsparungen an gehalten und massiv auf die beschleunigte Fertigstellung des Reaktors gedrängt, um ein rivalisierendes Projekt zum Bau des ersten „zivilen“ Atomkraftwerks im US- Bundesstaaat Pennsylvania zu schlagen. Weil Stretch sich diesem Druck widersetzte, wurde er wegen „Arroganz und Intoleranz“ gefeuert. Vorher allerdings schrieb er noch den Brief an Harold Macmillan, in dem er seine Sicherheitsbedenken gegen die Überstürzung bei Bau und Betrieb der Anlage äußerte. Selbst nach dem Reaktorbrand im Oktober 1957 wurden die Aussagen des wegen seiner Gewissenhaftigkeit gefeuerten Atommanagers von der anschließend eingesetzten Untersuchungskommission ignoriert. Was dagegen seine Kollegen vor dem Untersuchungsausschuß zu sagen hatten, ist bis heute geheim. Nur der Abschlußbericht, nicht aber die Zeugenaussagen vor der Kommission waren am vergangenen Freitag nach einer 30jährigen Sperrfrist von der Regierung freigegeben worden.
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