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Schuldenberg begräbt Stoltenberg

Noch vor drei Wochen verabschiedete der Bundesrat den „grundsoliden Bundeshaushalt“ / Nettoneuverschuldung wird jetzt von 40 Milliarden auf 49 Milliarden Mark steigen / Union kann Verfassungsbeschwerde aus eigener Oppositonszeit zum Verhängnis werden  ■ Von U.Sieber und U.Kunkel

Bonn/Berlin (taz) – Bundesfinanzminister Stoltenberg (CDU) mußte gestern vor der Presse eingestehen, daß die Nettoneuverschuldung (zusätzliche Kreditaufnahme während eines Jahres) im laufenden Haushaltsjahr auf die Rekordhöhe von 40 Milliarden Mark steigen wird. Damit ist die Summe um mehr als ein Viertel (etwa elf Milliarden) überzogen, die noch bei Verabschiedung des Haushaltes vor sechs Wochen im Bundestag und vor drei Wochen im Bundesrat gegolten hatte. Damals war man noch von gut 29 Milliarden Mark ausgegangen. Stoltenberg kündigte daher gleichzeitig an, einen Nachtragshaushalt einzureichen.

Die 40 Milliarden Mark seien, so sagte Stoltenberg vor der Bundespressekonferenz, „natürlich eine grobe Schätzung“. Die Bundesregierung wolle die höhere Neuverschuldung in diesem Jahr in Kauf nehmen.

Stoltenberg nannte mehrere Gründe für die Milliardenlöcher im Bundeshaushalt: Infolge der kurzfristigen, starken Abwertung des Dollars tendiere der Bundesbankgewinn in diesem Jahr „ge gen Null“. Die Bundesregierung habe jedoch noch im Oktober letzten Jahres einen Gewinn von 7 bis 8 Milliarden Mark eingeplant. In den vergangenen Jahren hatte die Bundesbank stets einen Gewinn dadurch erzielt, daß ihre Dollarbestände mehr wert waren als Buchhaltung vorsah (nach dem Niederstwertprinzip gut 1,70 DM). Einen zusätzlichen Finanzbedarf habe außerdem die EG: Stoltenberg nannte eine „voraussichtliche“ Größenordnung von etwa 4 Milliarden Mark. Allerdings sei dies nichts Neues, sondern schon lange bekannt: Als der Bundeshaushalt eingebracht wurde, habe die Regierung bereits darauf hingewiesen, daß für die EG noch zusätzliche Millarden zu zahlen seien. Stoltenberg bestritt mehrmals, daß auf der Ausgabenseite noch irgendwelche Risiken bestünden: „Möglichen begrenzten Mehrausgaben in einzelnen Bereichen stehen voraussichtliche Einsparungen in anderen gegenüber“. Allerdings bestünde keinerlei Spielräume mehr für „ein Vorziehen der Steuerusätzliche Ausgabenprogramme“ zur Konjunkturankurbelung, wie von SPD und den Gewerkschaften gefordert.

Im Haushaltsjahr 1989 will Stoltenberg die Staatsverschuldung um „mindestens 10 Milliarden Mark“ verringern. Dies soll durch Subventionsabbau, die Erhöhung „spezifischer Verbrauchssteuern“ und „konsequente Ausgabenbegrenzung“ erreicht werden. Wie diese Maß nahmen im einzelnen aussehen sollen, wollte Bundesfinanzminister Stoltenberg allerdings zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen.

Daß in diesem Jahr die Staatsverschuldung so hoch liegt und damit auch die Kreditgrenzen des Artikels 115 Grundgesetz überschritten werden, sei, so Stoltenberg, legitim, weil kurzfristige, nicht vorhersehbare Entwicklungen eingetreten seien.

Der Artikel sieht vor, daß die Nettoneuverschuldung in einem Haushaltsjahr nicht höher liegen darf als die geplanten Neuinvestitionen (34 Milliarden DM).

Dieser Verfassungsverstoß kann für den Unions-Finanzmini ster böse Folgen haben. Beim Bundesverfassungsgericht ist nämlich noch immer ein Verfahren anhängig, das 1982 Helmut Kohl, Friedrich Zimmermann und 229 Fraktionsmitglieder der Union gegen die damalige sozialliberale Koalition anstrengten. Der Vorwurf: Verstoß gegen Artikel 115 und zu hohe Kreditaufnahme. Seinerzeitige Nettokreditaufnahme: 37,2 Milliarden Mark.

Die Planungen für die Nettoneuverschuldung im Haushaltsjahr 1988 haben inzwischen eine bewegte Geschichte vorzuweisen. Ursprünglich hatte Stoltenberg mit 22 Milliarden Mark auskommen wollen. In den ersten Bundestagsdebatten noch vor der Schleswig-Holstein-Wahl mußten immerhin 26 Milliarden eingestanden werden. Drei Tage nach der Wahl hieß es dann 29 Milliarden (“enthüllte Stoltenbergs Parlamentarischer Staatssekretär Friedrich Voss die volle Wahrheit“, schrieb dazu unvorsichtigerweise der Spiegel. Der letzte Akt wurde nun am vergangenen Mittwoch eingeleitet. Ganz offenbar zur Abfederung des gestrigen Auftrittes Stoltenbergs hatte die Bundesregierung die beiden CDU-Abgeordneten Wissmann und Carstens mit den neuen Zahlen an die Öffentlichkeit vorausgeschickt.

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