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Urangate: Europa stochert im Sumpf

Hektische Beweissuche für die Lieferung waffentauglichen Materials aus Hanau nach Pakistan und Libyen / Jetzt auch Geheimdienstrecherchen im Spiel / Viele Spuren, aber noch keine konkreten Beweise / Staatsanwaltschaft ermittelt mit Hochdruck  ■ Von Kriener / Rosenkranz

Berlin (taz) – In Belgien, Schweden, Schweiz und in der Bundesrepublik wird weiterhin fieberhaft nach Beweisen für die Lieferung von atomwaffentauglichem Material durch die Hanauer Atombetriebe nach Libyen und Pakistan gesucht. Die Informationslage blieb gestern unklar. Erstmals wird auch über die Verwicklung von Geheimdiensten in die Affaire berichtet. Nach offiziellen Angaben der Hanauer Staatsanwaltschaft und des Umweltministeriums in Bonn liegen „keine konkreten Hinweise“ für einen Verstoß gegen den Atomwaffensperrvertrag vor. In Hanau wird „mit Hochdruck“ ermittelt. Die NUKEM wird von Polizeikräften weiter bewacht, die Schlösser des Skandallunternehmens wurden ausgewechselt, um Unbefugten den Zutritt zu verhindern. Umweltminister Töpfer wies das Unternehmen an, seine Lagerbestände an radioaktivem Material nicht mehr zu verändern. Neue Vorwürfe kamen von journalistischer Seite.

Inzwischen ist der Rücktritt des RWE-Vorstandsmitglieds Franz Josef Spalthoff von seinem Posten als Aufsichtsratsvorsitzender der NUKEM absehbar. Damit hätte der Skandal erstmals auch personell die Transnuklear-“Großmutter“ und NUKEM-Mutter RWE erreicht. Das RWE ist mit 45) Hauptgesellschafter der NUKEM.

Im WDR-Fernsehen wollte Spalthoff seinen Rücktritt zwar nicht bestätigen, erklärte jedoch, die Gesellschafter seien übereingekommen, daß die in Frankfurt ansässige Degussa als Nachbar der Hanauer Skandal-Firma „die NUKEM jetzt in ihre unternehmerische Obhut nehmen“ werde. Dies könne sich auch in einer geänderten Zusammensetzung des Aufsichtsrats niederschlagen. Es gehe nun darum, „im Interesse der Arbeitnehmer die Voraussetzungen zu schaffen, daß die NUKEM schnell wieder in einen ordnungsgemäßen Betrieb übergeführt werden kann“. Wie die neue „unternehmerische Obhut“ in der Praxis aussehen könnte, sagte Spalthoff nicht. Alle Berichte über die Verschiebung waffenfähigen Materials hält Spalthoff für „Seifenblasen“. Die Staatsanwaltschaft habe bis zur Stunde keinerlei Hinweise gefunden, die „diese Gerüchte auch nur im entferntesten bestätigen“.

Die Fernsehstation RTL plus berichtete, daß der israelische Geheimdienst Mossad seit längerem die Hanauer Firmen NUKEM, ALKEM und Transnuklear „beobachtet“ habe. Ein Mossad- Kommando habe den Befehl gehabt, Lieferungen von Uran-235 nach Libyen und Pakistan zu verhindern und notfalls auch deutsche Wissenschaftler zu entführen. Israels Verteidigungsminister Rabin habe bei seinem jüngsten Besuch in Bonn gegenüber Verteidigungsminister Wörner energisch wegen der Uran-Lieferungen protestiert. Wörners Ministerium hat diesen Bericht pauschal zurückgewiesen.

Paul Staes von den flämischen Grünen, der am Freitag Beweise für die Proliferation von Mol nach Pakistan und Libyen angekündigt hatte, verweigert weitere Aussagen. Er und seine Informanten seien bedroht worden. Staes hatte über pakistanische „Praktikanten“ berichtet, die in Mol arbeiteten. Einer dieser Praktikanten, die ausgebildete Ingenieure gewesen seien, war danach jener Abdul Kahn, der schon 1983 wegen Diebstahls von Geheimdokumenten zur Urananreicherung verurteilt worden war. Das pakistanische Außenministerium will zu dem Verdacht der Proliferation nicht Stellung nehmen. Außenminister Noorani: „Wir haben vorerst keinen Kommentar, ich möchte erst die Berichte sehen.“ Auch der Spiegel berichtet über Verbindungen der Nukem nach Pakistan. Die mit Nukem verflochtene Belgonucleaire habe in Pakistan eine Pilotanlage errichtet, die das Land nach eigenen Angaben „in die Lage versetzt, das notwendige Plutonium für eine Bombe zu produzieren.“ Bonn hat inzwischen die Wiener Atomenergie-Agentur um Hilfe gebeten. Bundeskanzler Kohl sieht ansonsten keinen Grund für eine Grundsatzdebatte über die Atomenergie. Der parlamentarische CDU- Geschäftsführer Seiters verlangte die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Auch die SPD hat einen eigenen Antrag angekündigt. Der Antrag der Grünen war letzten Mittwoch abgelehnt worden. Nukem selbst hat in einer Erklärung jede Verwicklung in eine Proliferation bestritten. Nach Pakistan sei lediglich eine Kobalt-60-Quelle für medizinische Zwecke geliefert worden. Zu zwei nach wie vor verschwundenen Fässern erklärte Nukem, ihr Inhalt sei „zu anderen bereits vorhandenen Reststoffen gegeben worden“ Hanaus Chef-Ermittler Farwick sagte, die zwei Fässer fehlten nach wie vor.

In Hanau kam es am Sonntag zu einer Kraftprobe um einen Brennelemente-Transport der RBU nach Frankreich. Landrat Eyerkaufer untersagte den Transport. RBU kündigte an, es wolle den Transport ab 20 Uhr auf jeden Fall abwickeln.

Die am Freitag von der Polizei konfiszierten Aktenordner und Unterlagen, die – so wurde vermutet – durch die Kontrollen geschleust werden sollten erwiesen sich laut Staatsanwaltschaft als unverdächtig. Nach Angaben der schwedischen Regierung habe man bereits „Anfang vergangener Woche“ Ermittlungen eingeleitet, nachdem nicht ausgeschlossen werden konnte, daß hochangereichertes Uran aus der Bundesrepublik über Schweden illegal in andere Länder geschafft wurde. In der Bundesrepublik war ein entsprechender Verdacht erst am letzten Donnerstag bekanntgeworden.

Über ein Plutonium-Abtrennverfahren, das in Mol vom Karlsruher Kernforschungszentrum betrieben worden sein soll, berichtet die Neue Presse in Hannover. Mit Hilfe eines „Naßveraschungsverfahrens“ hätten die Karlsruher Ingenieure aus vier cbm schwach und mittelaktiven Abfällen sechs kg Plutonium extrahiert. Dies sei außerhalb bundesdeutscher Kontrollen geschehen. Der Verbleib des Plutoniums sei teilweise unklar.

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